Im Jahr 2013 absolvierte ich an der Hochschule in Darmstadt einen umfangreichen
Fernlehrgang,
welcher Grundmerkmale der Literaturformen wie Theater, Film- und TV-Drehbuch,
Journalistik, Sachbuch, Kinder – Jugendbuch, Krimi, Lyrik, Biografie, Roman, Erzählung
und Kurzgeschichten beinhaltete. Kurz gesagt: das Handwerk der Schriftstellerei.
Seitdem sind zahlreiche Publikationen von mir in unterschiedlichen sprachlichen Werken
in der Gattung Dramatik, Epik und Lyrik erschienen.
Mein Spiegelbild, in seiner Pracht
sich im Wasser zeigend;
drei Becken
übereinanderlegend
das eine mittel,
das andere klein
das größte voller Sonnenschein
Ganz leise, so plätschert es
von oben sich neigend
aus der Schale, über
den Rand,
mit Leichtigkeit
und Tanz
ein Wasserspiel mit Eleganz
Der verspielte Moment
verweilt einen Augenblick,
Ich freue mich, ich
kann es fühlen
Muße, Nah,
so wunderbar
Fast fühlbar, mit der Hand
mein Spiegelbild, in sanfter Bewegung,
der
Blick empor, zum Himmel hinauf
genau in dieser Stille -
Glückseligkeit in
seiner Fülle.
Neuer Eckzahn,
ganz stolz
im Munde
er ist jetzt der größte
und
schönste
in der Runde.
So spürte man,
von oben sich neigend
die Spitze im Munde,
mit
Leichtigkeit und Tanz
ein
Zungenspiel der Eleganz
Letztendlich
so fühlbar,
in sanfter Bewegung
der Blick empor
man stelle sich vor
die
Eckzahnspitze
ist Gewiss
das allerhöchste
im Gebiss.
Manche Menschen suchen alles
einige suchen nach nicht vielem,
Manche Menschen
suchen nichts
einige suchen
nur nach etwas mehr,
Manche Menschen suchen Grenzenlos
suchen nach einem
Quäntchen Totalität
Einige Weltverbesserer fragen sich:
Hat man alles - oder gar zuviel?
Was ist alles?- Reichtum mit
Stil?
Was geben wir in unserer Macht?
Alles? - Nein, nur etwas Parole
und die ist
manchmal unbedacht
Ich denke: durchaus gibt es mehr
mehr - ein Begriff zum Nachdenken
wo
hört es auf - das Handvoll
Leben
geht es weiter nach dem Tod?
alles so Prävalent doch bizarr -
vielleicht
verzückt Sonderbar?
Aber nun, ich Philosophiere:
so kostbar wie ein Kuss von dir,
Du bist
alles für mich - will heißen
du bist mein Glück, getreulich
mein ein und alles
und noch viel mehr
das ist mehr als alles, dies flüstere
ich dir.
Das Gedicht „Irrealität“ erschien im November 2017 in der Lyrik – Bibliothek –
Herausgegeben von Literareon
Die Literareon Lyrik-Bibliothek – Band 15 Taschenbuch – 29. November 2017
von Literareon (Herausgeber)
ISBN 978-3-8316-2032-6
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de/ abrufbar.
Milch-Backenzahn fragte in die Runde:
was kaut ihr bei uns am liebsten im Munde?
Incisor der erste: Brokkoli
mit ganz viel Reis.
Milchzahn-Backenzahn lachte leis:
Unfassbar, Brokkoli und
Reis?
Gesund, das steht
natürlich im Vordergrund.
Incisor fragte Milch-Backenzahn:
Was kaust du denn vorzugsweis?
Milchzahn-Backenzahn schwärmte:
Viel Schokolade mit Marmelade.
Incisor lechzte:
Schade, wie fade.
Pass auf, bald kommt Karies zu dir raus
und baut in dir ein
Haus.
Milch-Eckzahn meldete sich zu Worte:
Zähneputzen ist garnicht schwer
weniger Süßes ist manchmal
mehr.
. Der neue Frontzahn mischte sich dazu:
Ich mag es am liebsten
Kalziumreich,
denn damit bleibe
ich weiß
das ist der Zähne Geheiß.
Milchzahn-Eckzahn schreite:
Schokoladen-Backenzahn ist schwarz,
er ist
nun schwarz wie Harz!
Der Zahnarzt schließlich
zog sanft mit einem Male,
den
kranken Zahn
aus seiner Kiefernschale.
Genre: Drama
Der Stoff zu meinem ersten Drehbuch entstand aus dem gleichnamigen
Roman
„Das pikante Geheimnis“.
Auf dieser Grundlage erstellte ich die Szenen der Geschichte sehr ausführlich,
nachvollziehbar in ihren Gedankengängen,
Gefühlen und der Problematik des Erzählers und Protagonisten.
Das Drehbuch
umfasst 91 Seiten
Filmgenre Western
John Trüffel ist 30 Jahre jung und ein begeisterter Westernreiter. Nach einem folgenschweren Autounfall fällt John in einen ungewöhnlich tiefen Klartraum, in dem er sich der Westernzeit 1862, als Showreiter Johnny Lee Cooper wiederfindet. In den abwechselnden Sprüngen von Traum und Realität, widersetzt er sich mit Mut, Hartnäckigkeit und Courage gegen den eiskalten Banditen
Bo Joung, der mit allen Mitteln versucht, Johnny das Leben schwer zu machen. Gelingt es Johnny seine große Liebe im Traum zu retten, diese jedoch ohne sein Wissen in der Realität nicht von seiner Seite weicht und einem alten Ranch Ehepaar ein notwendiges Versprechen zu erfüllen? Und was aber passiert, wenn der Traum, kurz vor dem Ziel, zu zerplatzen droht?
Das Drehbuch umfasst 94 Seiten.
Mein Drehbuch Westernzeit hatte es beim Internationalen WriteMovies Screenwriting Contest 2015 in Beverly Hills in das Finale geschafft.
LEBE DEINEN TRAUM
Als der erfolgreiche Geschäftsmann Max Maibaum seinen Job verliert, verheimlicht er dies
aus Scham vor seiner Familie und gelangt durch seinen Kumpel in die Pornobranche, die
ihm zunächst gutes Geld beschert.
Doch nicht nur Max hat Geheimnisse vor seiner Familie, auch seine Frau und sein Kumpel
geraten immer mehr in ein undurchsichtiges Netz aus Lügen und Affären, aus dem sie nur
schwer wieder herausfinden.
Die Geschichte ist aus der Ich-Perspektive des Hauptprotagonisten Max Maibaum
geschrieben.
Zum Ende hin wird die Erzählperspektive gewechselt, und es wird aus der Sicht der
Ehefrau Heike Maibaum weitererzählt.
***
Teil 2 folgt
Genre: Fantasy - Abenteuer
Ab 12 Jahre
Die Geschichte erzählt von „Sasa Malleus“, die dachte, ein ganz normales Mädchen zu sein
- bis zu dem Tag, als vor ihr zwei Fellgnome stehen. Denn in Wahrheit ist sie eine
Zauberin die dazu bestimmt ist, das verschwundene Lichterland wiederzufinden. Nachdem
Sasa ihre anfängliche Skepsis überwunden hat und ihr Schicksal annimmt, beginnt ihre
Suche mit den Fellgnomen und einer Elfe in den hängenden Gärten von Babylon. Doch um das
Land zu finden, das im Meer versunken liegt, müssen sie bei sechs bekannter Welt und
Naturwundern nach Teilstücken der zerrissenen Himmelskarte suchen - wobei mysteriöse
Überraschungen, sonderbare Wendungen und antike Rätsel dort auf sie warten.
***
*Anthologiebeiträge
*Gast - Autorin bei g[y]nt - Online-Illustrierte für
Entdecker und Kreative
http://www.gynt.eu/teufelsbett/
Freiheit: Kurzgeschichten 2013/14
Anthologie (Literareon)
ISBN 978-3-8316-1751-7
Kunterbunt: Kurzgeschichten 2014/2015
Anthologie (Literareon)
ISBN 978-3-8316-1835-4
Griechenland - Athen
Die Sterne sind weit weg aber doch so nah.
Mit kurzen Unterbrechungen konnte Sirius ganz vertieft und stundenlang am Fenster
sitzen, um den sternenklaren Nachthimmel zu beobachten. Für ihn gab es nichts
Bedeutenderes als die Faszination der Sterne.
Als er noch klein war, schenkte ihm sein Vater ein einfaches Fernglas, damit er die
Sterne besser sehen konnte. Später war sein Spiegelteleskop sein Ein und Alles, das sein
Vater einmal bei einer Auktion erstanden hatte.
Neben dem Teleskop in seinem Zimmer stand ein antiker runder Spiegel, der ebenso eine
besondere Bedeutung besaß. Doch seit einigen Wochen ließ Sirius niemanden mehr an sich
heran, wollte mit seinem Schmerz alleine fertig werden, schlief wenig.
Sirius reinigte sorgfältig sein Spiegelteleskop, als es an seiner Tür klopfte und seine
Mutter in sein Zimmer eintrat.
„Dein Professor hat gerade angerufen und gefragt, wann du wieder in die Uni kommst? Die
Sternwarte braucht dich“, erzählte sie. Sirius zuckte nur mit den Achseln und wich dem
besorgten Blick der Mutter aus.
„Ach Sirius“, seufzte sie, als sie sich auf die Bettkante setzte und ihr Kleid
glattstrich. Sie hob ihren Kopf und wollte etwas sagen, aber als sie Sirius dabei
beobachtete, wie behutsam er sein Teleskop säuberte, versagte ihre Stimme. Sie ging
schwermütig wieder aus seinem Zimmer hinaus, drehte sich an der Tür nochmal um und
fragte, ob er etwas essen möchte. Doch Sirius reagierte nicht. Tränen rollten ihm über
das Gesicht, die er mit einer trotzigen Geste wegwischte.
Als seine Mutter endlich das Zimmer verlassen hatte, atmete Sirius tief durch und
schaute durch das Fernrohr.
An diesem Abend funkelte ein Stern besonders hell und blinkte stark, so dass Sirius sich
geblendet fühlte. Müde rieb er seine Augen und schaute nachdenklich zum Himmel.
„Happy Birthday“ schrieb er auf den verstaubten Spiegel und vergrub sein Gesicht in den
Händen. Er schluchzte hemmungslos, denn es war kein Tag wie jeder andere, sondern der
Tag, an dem sein geliebter Vater Geburtstag hatte.
Es war mittlerweile fast Mitternacht und Sirius saß immer noch im Schneidersitz, in
Gedanken versunken am offenen Fenster. Er bemerkte seine Mutter nicht, die schon eine
Weile am Türrahmen stand. „Wie lange sitzt du eigentlich schon dort?“, fragte sie
schließlich. Sirius erschrak und wischte sich schnell die Tränen aus dem Gesicht.
„Er hat mir noch kein Zeichen gegeben“, flüsterte er und starrte wieder zum Himmel auf.
Seine Mutter nahm ihn in den Arm und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
„Das wird er noch“, erwiderte sie leise und legte ihm eine Decke über die Schulter.
„Warum nur?“, flüsterte Sirius mit trockener Kehle. Sirius Mutter senkte traurig den
Kopf und seufzte. „Diese Frage solltest du dir nicht mehr stellen“, antwortete sie.
„Manchmal passieren Dinge im Leben, die wir nicht vorhersehen können Du darfst deinen
Lebensmut nicht verlieren.”
„Aber ich war nicht ein einziges Mal an seinem Grab. Ich bin so ein schlechter Mensch!”
„Aber nein Sirius. Sage bitte sowas nie wieder. Du bist noch immer traumatisiert. Jeder
Mensch verarbeitet den Verlust eines geliebten Menschen anders. Und du wirst noch etwas
Zeit brauchen. Schritt für Schritt schaffen wir das”, sagte sie einfühlend und nahm
Sirius schützend in die Arme.
„Ich bewundere dich so, Mama. Du bist so stark und zeigst deine Trauer nicht.”
„Oh Sirius, da täuscht du dich. Tagtäglich sehe ich deinen Schmerz in deinen Augen
schimmern und mich kostet es sehr viel Kraft, nicht vor dir zu weinen. Wir beide haben
etwas sehr Kostbares in unserem Leben verloren. An manchen Tagen, wenn ich meine Gefühle
nicht mehr unterdrücken kann und ich aus Verzweiflung nur noch schreien möchte, dann
stelle ich mich unter die Dusche und lasse meinem Schmerz freien Lauf.”
Sirius sah seine Mutter überrascht an, bis sie leise zu schluchzen anfing. Dann tat er
etwas, was er eigentlich viel zu selten machte: er nahm seine Mutter in die Arme und
tröstete sie.
Nach einer Weile fragte Sirius, ob er genauso wie sein Vater ist.
„Oh ja. Sehr sogar“, begann seine Mutter zu antworten. „Du bist das Abbild deines
Vaters. Wenn ich dich manchmal beobachte, wie du deine Haare mit Sorgfalt kämmst oder
dich rasierst, dann sehe ich deinen Vater in jungen Jahren, als ich ihn kennengelernt
habe.” Sirius hielt für einen Moment inne.
„Dieser Spiegel hier, wie alt mag er sein?“, fragte er schließlich und strich dabei über
die fein polierten Riffelungen.
„Ziemlich alt, wenn du mich fragst. Dein Vater hatte ihn von seinem Großvater geerbt,
aber er stand jahrelang nur auf dem Dachboden, bis du ihn entdeckt hast.” Sirius
lächelte und pustete Fusseln vom Spiegel, die anschließend vor seinem Gesicht
herumschwirrten.
„Dieser Spiegel hat etwas Geheimnisvolles. Immer wenn ich in diesen Spiegel schaue, muss
ich lächeln. Meine Traurigkeit ist dann für einen Moment verschwunden, als ob mir der
Spiegel etwas sagen will“, erzählte Sirius nachdenklich.
„Vielleicht ist es ein magischer Spiegel”, fügte er noch in Gedanken versunken hinzu,
als er erneut durch sein Teleskop in den Himmel schaute.
„Vielleicht hast du recht und es ist wirklich etwas Wahres daran und Papa ist dir näher,
als du ahnst. Man sagt, nach dem Tod verweilt die Seele oft eine Weile in ihrer
vertrauten Umgebung”, erklärte die Mutter. Doch Sirius war längst wieder in Gedanken und
nahm die letzten Worte der Mutter nicht wahr.
Der nächste Morgen verlief für Sirius nicht viel anders als wie die vergangenen Tage und
Wochen. Mit hängenden Schultern schlurfte er in die Küche, wo bereits seine Mutter das
Frühstück zubereitete. „Hast du wieder nicht geschlafen?”, fragte sie mit einem
besorgten Gesichtsausdruck. „Du siehst überhaupt nicht gut aus. Wann hast du dich das
letzte Mal rasiert und geduscht?”
„Keine Ahnung. Hat das denn noch irgendeinen Sinn?”, murrte Sirius und trank einen
kräftigen Schluck Kaffee. Ohne dabei seine Mutter anzuschauen, setzte er fort: „Ich
bekomme verdammt nochmal kein Auge zu. Und wenn ich die Augen zumache und versuche zu
schlafen, dann sehe ich immer wieder, wie Papa in das Auto steigt und losfährt. Ich
wünschte, ich wäre in das Auto gestiegen!”
„Sag so etwas nicht”, erwiderte sie entsetzt. Doch Sirius ging nur mit einem
Achselzucken darüber hinweg. Er spürte, dass selbst seine Mutter mit der Situation
überfordert war. Traurig setzte sie sich ihm gegenüber und nippte langsam an ihrem
Kaffee. Er konnte mit seiner Mutter über alles reden, aber nicht über den Tod. Nach
einigen Minuten des Stillschweigens stand er auf und ging zum Kühlschrank.
„Wie ich sehe, warst du schon länger nicht mehr einkaufen“, stellte er resigniert fest
und nahm entschlossen eine Flasche Bier heraus.
„Am frühen Morgen willst du schon Bier trinken? Es ist noch nicht mal neun Uhr. Ist das
dein Ernst?“
„Mein voller Ernst. Mit Bier konnte ich schon immer gut schlafen, und da Papa…“, doch er
unterbrach sich.
„Na gut, wenn es dir hilft, aber bitte verspreche mir, dass es nicht zur Gewohnheit
wird“, erwiderte sie und kramte anschließend in ihrer Tasche herum. „Ich habe noch was
für dich“, und überreichte ihm ein Buch. „Vielleicht ist das was für dich und ich habe
mir gedacht, wenn du schon nicht mit mir oder mit jemanden anderem darüber reden
möchtest…, und du brauchst es ja nicht regelmäßig zu führen.“
„Was soll ich mit einem Tagebuch anfangen?“, fragte Sirius genervt.
„Na ja, manchmal hilft es, seine Gedanken aufzuschreiben. Eine Art Eigentherapie“,
erklärte sie ruhig.
„Ich empfinde das als pure Zeitverschwendung“, warf er ein und suchte dabei in der
Schublade nach einem Flaschenöffner.
„Ich möchte dir doch helfen“, entgegnete sie mit tränenerstickter Stimme.
„Ist schon gut Mama. Es ist alles nicht einfach“, murmelte Sirius und nahm dankend das
Buch an. „Ich werde es versuchen, aber versprechen kann ich nichts.“
„Ja, sicher“, antwortete sie.
Etwas später saß Sirius in seinem Zimmer und betrachtete die fast leere Flasche in
seiner Hand. Er fühlte sich etwas beschwipst und nahm mit einem tiefen Seufzer den
letzten Schluck. Er malte mit seinem Finger einen Smiley und ein Fragezeichen auf die
verstaubte Spiegeloberfläche.
„Und jetzt?“, fragte er sein Spiegelbild. Sein ratloser Blick blieb auf das Tagebuch
haften. Er beschloss, sich der Sache anzunehmen und schlug die erste leere Seite auf:
Hallo Papa,
Mama hat mir dieses Buch geschenkt. Ich schreibe an dich da oben Papa, und vielleicht
liest du es auch.
Gibt es noch mehr als den Tod? Erwachen wir irgendwann als ein anderes Individuum oder
wird uns gar eine Wunsch-Metamorphose erlaubt? Ach, ist mir eigentlich egal. Vielleicht
ist das alles nur ein Alptraum und ich erwache bald.
Sirius!
Dann legte er sich in sein Bett, schlief ein und erwachte erst wieder am späten Abend,
als die Sterne am Himmel allmählich ihren Platz einnahmen. Im Haus war es still. Die
Pendeluhr im Wohnzimmer schlug elf Mal, als Sirius verschlafen auf seinen Wecker
starrte. Sein Mund fühlte sich trocken und rau an und er hatte unbändigen Durst.
Leise schlurfte er in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Er nahm einen kräftigen
Schluck aus der Wasserflasche, bis sein Blick auf die zwei Bierflaschen in dem obersten
Fach haften blieb. Er drehte sich kurz um, horchte auf und griff schließlich nach den
Flaschen. Noch in der Küche öffnete er diese und begab sich eilig in sein Zimmer. Die
erste Flasche leerte er in einem Zuge, die zweite etwas langsamer. Dabei lächelte er
selig.
Hallo Papa,
Mein Kummer erdrückt mich und ich kann nichts dagegen tun. Es tut mir leid, Papa. Ich
hasse mich dafür!
Sirius!
In den folgenden Tagen und Wochen veränderte Sirius sich zunehmend. Der Alkohol wurde
sein abendliches Ritual, eine Entspannungstechnik, wie er leichtgläubig dachte.
Mit der Zeit gewöhnte er sich an, seinen Alkoholkonsum auf leeren Magen einzunehmen, was
dazu führte, dass er zunehmend schneller einschlief. Alles um ihn herum war wie betäubt
und er vergaß seinen Kummer.
Doch bald merkte er, dass er nicht mehr mit Genuss trank, sondern nur noch gierig den
Alkohol in seine Kehle kippte. Bis die erste emotionale Auseinandersetzung zwischen ihm
und seiner Mutter stattfand.
„Hast du denn nichts weiter eingekauft?“, fragte seine Mutter, als sie den Kühlschrank
wieder zumachte.
„Doch, siehst du doch“, erwiderte er und wischte sich über sein aufgedunsenes Gesicht.
„Aber Sirius, ich sehe nur Bier, Bier und nochmals Bier. Keine Wurst oder Butter, nichts
Essbares!“
„Dein Problem. Wenn du etwas zu essen haben willst, gehe selber einkaufen“, entgegnete
Sirius kühl.
Die Mutter ließ sich fassungslos auf den Stuhl sinken. „Du bist mir fremd geworden, mein
Kind“, sagte sie vorwurfsvoll.
Sirius wurde ärgerlich und meinte: „Mein Kind? Mutter, wenn du es schon bemerkt haben
solltest, ich bin kein Kleinkind mehr!“
„Genau das meine ich. Du bist seit einiger Zeit sehr zornig und fährst bei jeder
Kleinigkeit aus der Haut. So geht das nicht weiter!“
„Nun, ich kann ja nicht wie du das Geschehene einfach vergessen und salopp zum Alltag
übergehen!“
„Wie bitte? Wie redest du eigentlich mit mir?“, rief seine Mutter wie vor den Kopf
gestoßen. „Wie kannst du nur so etwas Grauenhaftes sagen? Ich habe ganz gewiss deinen
Vater nicht vergessen, und es ist für mich schlimm …“
„Ach, hör doch auf!“, schrie Sirius und rannte aus der Küche. Augenblicke später knallte
er die Eingangstür hinter sich zu.
Entsetzt und hilflos blieb die Mutter in der Küche stehen und ließ ihren Tränen freien
Lauf. Zum ersten Mal nach dem Verlust ihres Mannes heulte sie sich die Seele aus dem
Leib. Sie spürte zudem, dass ihr Sohn in den Abgrund stürzte.
Traurig ging sie in sein Zimmer, sammelte die leeren Bierflaschen auf und hinterließ auf
dem verstaubten Spiegel eine Nachricht: Ich habe dich sehr lieb!
Erst bei Morgenanbruch schloss Sirius polternd die Haustür auf und verkroch sich in sein
Zimmer. Er war betrunken.
Am Nachmittag erwachte er allmählich aus seinem Rausch. Doch sein Magen rebellierte und
sein Kopf dröhnte immens. Angeschlagen schlurfte er die Treppe hinunter und öffnete die
Küchentür. Ein frischer Duft seines Lieblingsessens Fasolada stieg ihm in die Nase.
Seine Mutter stand am Herd und rührte in einem Topf herum. Sie bemerkte ihn erst, als
sie sich umdrehte, um den Topf auf den Tisch zu stellen. Sein Anblick ließ sie kurz
erstarren.
„Sirius, was ist mit dir? Du siehst furchtbar aus!“
„Eine Grippe ist im Anmarsch“, antwortete er knapp. „Haben wir kein Bier im Haus?“,
röchelte er, als er die Kühlschranktür wieder zuschlug und sich an den Tisch setzte.
„Nein aber ich kann welches mitbringen, wenn ich nachher noch zum Einkaufen fahre“,
versprach sie. „Aber wäre ein Tee jetzt nicht besser für dich?“
Plötzlich verzog Sirius sein Gesicht, hielt verkrampft seine Hände vor dem Bauch und
übergab sich mitten auf den Tisch.
Der strenge Geruch von Bier und Tsipouro verbreitete sich in Sekunden in der Küche.
Sirius saß kreidebleich am Tisch. Er schämte sich furchtbar. Tränen traten ihm in die
Augen, als seine Mutter, ohne ein Wort zu sagen, die Küchenfenster öffnete und damit
begann, den Tisch zu säubern.
„Das ist nicht schlimm, Sirius. Leg dich besser wieder ins Bett“, sagte sie mit ruhiger,
tröstender Stimme.
Mit gesenktem Blick stand Sirius auf und ging in sein Zimmer. Diesmal schloss er seine
Zimmertür hinter sich ab. Als er jedoch die liebevolle Botschaft seiner Mutter auf dem
Spiegel gelesen hatte, weinte er hemmungslos.
Hallo Papa,
Ich schäme mich so sehr, was mir heute passiert ist. Ich habe mich über den Küchentisch
übergeben. Sowas ist mir noch nie passiert. Und dann hat Mama meine Kotze entfernt. Ich
konnte ihr nicht in die Augen schauen. Wie kann ich das nur wieder gut machen. Ich
könnte schon wieder heulen. Schon die vergangenen Wochen sind für mich eine Qual. Nichts
ist wie vorher. Seit ein paar Tagen träume ich sogar schon von meinem eigenen Tod. Was
hat das zu bedeuten? Werde ich auch bald sterben?
Ich weiß nicht, was die Zukunft mir noch bringen wird, aber morgen werde ich mich wieder
zur Sternwarte aufmachen. Mein Professor ruft fast täglich an und fragt, wann ich
wiederkomme. Er ist ein guter Lehrer. Wie du, Papa. Ich hoffe, dir geht es da oben im
Himmel gut.
Sirius
Am nächsten Tag nahm Sirius sich beim Wort und nahm nach fast vier Monaten sein Studium
zum angehenden Astrophysiker wieder auf. Sein Dozent war außer sich vor Freude und
schöpfte wieder Hoffnung, dass Sirius den gleichen Karriereweg einschlagen würde, wie
einst sein Vater. Doch es lief nicht so, wie Sirius es sich erhofft hatte. Mit der Zeit
merkte er, dass er dem enormen Leistungsdruck nicht mehr standhalten konnte. Zudem wurde
es für ihn eine tägliche Zerreisprobe, jeden Morgen aufzustehen, sich anzuziehen, zu
frühstücken und schließlich in die Universität zu fahren. Zunehmende
Konzentrationsschwierigkeiten machten ihm zu schaffen und so suchte er nach einer
Lösung. Ohne lange zu überlegen, hatte er sein persönliches Rezept für sein Problem
gefunden und so fing Sirius an, wieder heimlich zu trinken.
Hallo Papa,
Irgendwas läuft schief in meinem Leben. Ich habe mich wieder aufgerafft und studiere
wieder. Doch ich kann meinen Platz in der Sternwarte einfach nicht mehr finden. Warum
ist das plötzlich so? Was ist nur los mit mir? Ich schaue in den Himmel und er ist nur
schwarz, schwarz, schwarz. Ich muss immer an dich denken, Papa. Morgens, mittags,
abends. Ich will doch eigentlich mein Studium zu Ende bringen und dir damit eine Freude
machen. Doch alles scheint mir nichts mehr zu bedeuten. Am liebsten würde ich den ganzen
Tag nur noch schlafen. Für immer.
Sirius
Am nächsten Morgen rappelte Sirius sich mühselig aus dem Bett und blieb ein Augenblick
auf der Bettkante sitzen. Seine Beine fühlten sich wie Blei an und sein Kopf schmerzte.
Wie jeden Morgen, wenn sein abendlicher Umtrunk reichlich mehr als gewöhnlich geworden
war.
Als er zum Spiegel schritt, um sich davor zurechtzumachen, wurde er stutzig. Auf dem
Spiegel stand in Staubschrift geschrieben: Du liebst doch die Sterne. Kämpfe!
Sirius fasste sich ungläubig an den Kopf und wischte die Zeilen rasch weg. Anschließend
nahm er noch zwei kräftige Schlucke aus seiner Wodkaflasche und versteckte sie wieder.
Doch so motiviert Sirius in den bevorstehenden Tag schritt, so unberechenbar wurde er am
Abend.
„Mama - Mama!“, schrie Sirius in der Küche.
„Schrei doch nicht so. Ich stehe direkt hinter dir“, sagte seine Mutter.
„Ach so, ich dachte, du bist gerade raus“, murmelte er unruhig. „Wolltest du nicht
einkaufen?“
„Habe ich doch. Ist alles da.“
„Nein, eben nicht. Das Bier fehlt!“
„Ich habe beschlossen, den ersten Schritt zu machen und werde keinen Alkohol mehr
kaufen.
„Das glaube ich jetzt nicht. Seit wann das denn?“ Sirius Stimmung veränderte sich
schlagartig.
Zornesfalten machten sich auf seiner Stirn breit und er trat ungehalten
gegen einen Stuhl.
„Du hast ein Alkoholproblem“, begann seine Mutter in einem ruhigen Ton.
„So ein Blödsinn“, erwiderte Sirius und nahm demonstrativ eine Flasche aus dem
Kühlschrank. „Auf dich, Mama“, fügte er noch hinzu, bevor er die Milchflasche überstürzt
ansetzte. Angewidert dessen setzte er sie wieder ab.
„Sirius, warum willst du dir nicht helfen lassen? Glaubst du, ich habe in den
vergangenen Wochen nicht mitbekommen, wie du dich verändert hast? Glaubst du wirklich,
ich würde deine Alkoholfahne nicht riechen? Dein Zimmer gleicht dem Gestank nach einer
Kneipe!“
„Ich bin nicht abhängig!“ versicherte Sirius und wollte seine Mutter in den Arm nehmen.
Doch sie wich von ihm zurück. „Du hast schon wieder getrunken. Ich rieche es doch.“
„Na und? Ich habe halt mit meinen Kommilitonen einen Feierabendumtrunk genommen.“
„Neuerdings tust du das jeden Abend. Und das ist dein Problem“, schlussfolgerte sie.
„Ich habe kein Problem “, erwiderte Sirius gereizt.
„Doch. Du rennst vor deinen Problemen davon und versuchst sie zu ersaufen!“
„Ich sage es dir nochmal, Mama. Ich-bin-nicht-abhängig!“
„Aber gefährdet!“, erwiderte sie unbeeindruckt von seiner persönlichen Meinung.
„Verdammt nochmal! Ich kann mit dem Trinken aufhören!“, rief Sirius nun erbost und
schleuderte die Milchflasche an die Wand. Seine Mutter starrte ihn nur noch an. Sie
hatte Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten aber sie gab ihren Sohn nicht auf.
„Sirius, du bist bereits dort, wo man schon von Abhängigkeit sprechen kann. Und ich
werde nicht tadellos zusehen, wie ich meinen letzten geliebten Menschen verliere.“
Mit geballten Fäusten lief Sirius aus der Küche und ließ seine entsetzte und zugleich
traurige Mutter zurück.
Hallo Papa,
Wenn ich doch nur einen einzigen Wunsch frei hätte, dann würde ich mir wünschen, dass du
jetzt zur Tür hereinkommst, und mich wie immer aufforderst, endlich meine muffig
riechende Sporttasche auszupacken. Es tut mir leid Papa, dass ich immer so trotzig
reagiert habe. Du hattest ja immer recht damit, dass man über die Tasche fallen könnte
oder dass meine Stinkewäsche bald selber zur Waschmaschine läuft. Das hat dich immer auf
die Palme gebracht. Aber du warst nie lange sauer auf mich. Ganz im Gegenteil. Ich weiß
noch ganz genau, wie du mir zum ersten Mal erklärt hast, was die Milchstraße ist. Eine
Galaxie von Milliarden von Sternen. Und irgendwo dort oben bist jetzt du. Du fehlst mir
so sehr.
Sirius
In den folgenden Tagen riss Sirius sich zusammen. Er wollte sich zwar bei seiner Mutter
für sein scheußliches Auftreten, wofür er sich zutiefst schämte, entschuldigen, zögerte
es aber im entscheidenden Moment wieder hinaus.
„Also irgendwie verstehe ich das nicht.“
„Was verstehst du nicht?“, hakte Sirius nach, als seine Mutter mit einem Wäschekorb in
den Händen vor dem antiken runden Spiegel in seinem Zimmer stand.
„Ich habe heute sämtliche Spiegel und Fenster im Haus geputzt, aber dieser Spiegel zieht
den Staub magisch an“, sagte sie verblüfft und befreite ihn abermals von den
Staubpartikeln.
„Vielleicht hat ihn Papa deshalb auf den Speicher abgestellt“, vermutete Sirius und
blickte wieder in sein Buch, bis sie den Kleiderschrank öffnete. Mit Argusaugen
beobachtete er, wie sie die frische Wäsche einsortierte. Dann aber, beim Zurechtrücken
und Einsortieren der frischen Wäsche, fiel etwas im Schrank um.
„Was war das?“, fragte sie und wollte nachschauen, doch Sirius sprang wie von einer
Tarantel gestochen auf und stellte sich demonstrativ vor den Kleiderschrank.
„Was soll das denn jetzt?“, fragte sie überrascht.
„Ich räume meine Wäsche selber ein“, warf er schnell ein und riss ihr die Shirts aus der
Hand.
„Ok. Das sind ja ganz neue Seiten an dir.“
„Richtig und irgendwann muss ich das selber machen. Früher oder später bist du ja auch
nicht mehr da.“
„Was redest du da für einen Stuss? Ich hatte nicht vor, dich zu verlassen“, widersprach
sie entrüstet.
„So habe ich das auch nicht gemeint. Ach, lass mich doch in Ruhe.“
„Ja, das sollte ich jetzt tun. Langsam reicht mir dein unmögliches Verhalten. Außerdem
weiß ich, dass du im Schrank deine Flaschen versteckst. Warum musste es soweit
kommen?“
„Ich kann damit meine Probleme vergessen. Reicht dir diese Antwort?“, fragte Sirius
kühl.
„Das ist aber keine Lösung“, widersprach seine Mutter.
„Dann hilf mir doch endlich!“, schrie Sirius.
„Das versuche ich schon die ganze Zeit. Oder soll ich mit dir zusammen das Problem etwa
Runtertrinken? Ist es das, was du willst?“
„Hau ab!“, schrie Sirius und warf sich heulend auf das Bett.
„Dein Problem ist, dass du mit dem Tod von Vater nicht zurechtkommst und das verstehe
ich auch. Aber wie soll ich dir helfen, wenn du dir nicht helfen lassen willst? Ich bin
ratlos und traurig darüber.“
„Geh weg. Gehe einfach weg“, sagte Sirius nun mit zitternder Stimme.
„Ist gut, aber einst solltest du noch wissen, dass ich dich sehr liebe. Ich habe einen
Wunsch an dich.“
„Und der wäre?“
Seine Mutter setzte sich zu ihm auf die Bettkante und antwortete: „Ich möchte wieder den
unabhängigen Sirius zurück, der sich niemals aus dem Konzept bringen lässt, der
überzeugt ist von seinen Fähigkeiten, der seine fabelhaften Ideen umsetzt, aber vor
allem, der das Leben zu schätzen und lieben weiß. Schau zu den Sternen hinauf.“
Dann schritt seine Mutter aus dem Zimmer und schloss langsam die Tür hinter sich. Sirius
verstummte und weinte leise.
Hallo Papa,
Warum kann Mama einfach so zur Tagesordnung übergehen? Als ob nie etwas passiert wäre?
Ich weiß, dass ich loslassen muss, aber es fällt mir so verdammt schwer. Ich weiß auch,
dass ich mit dem Trinken aufhören muss, aber es ist schwierig. Vielleicht höre ich
morgen damit auf. Papa, ich vermisse dich schrecklich.
Sirius
In den nächsten Tagen ging Sirius dem Alkohol aus dem Weg. Mit Mühe schleppte er sich
täglich in die Uni und absolvierte die langen Unterrichtsstunden mit Kopfschmerzen. Dann
hielt er es nicht mehr aus und kramte mit zitternden Händen eine kleine Flasche aus
seinem Kleiderschrank. Zwei, drei kräftige Schlucke und es hatte ihn wieder fest im
Griff. Er fühlte ein Brennen durch seine Glieder. Er entspannte sich und blickte
lächelnd zu dem runden, antiken Spiegel. Doch sein Lächeln gefror augenblicklich.
Plötzlich reflektierte die Glasfläche so stark, dass Sirius sich mit den Händen die
Augen zuhalten musste. Sekunden später öffnete er wieder die Augen und auf dem Spiegel
stand in Staubpartikel geschrieben:
Sie liebt dich!
Wo ein Wille ist, ist auch Weg
Sirius fasste sich an den Kopf und flüsterte: „Jetzt werde ich langsam auch noch
verrückt!“
Er setzte sich auf das Bett und starrte nur noch in den Spiegel. Es vergingen Stunden,
bis seine Mutter in sein Zimmer kam und ihn sitzend auf der Bettkante vorfand.
„Sirius?“ Er reagierte nicht. „Sirius, Schatz, was ist passiert? Du bist ja
leichenblass!“ Er zeigte mit einer Flasche in der Hand zum Spiegel. Sie schaute in die
Richtung und schüttelte mit dem Kopf. „Was willst du mir sagen?“
„Auf dem Spiegel steht was“, antwortete Sirius leise. Seine Mutter trat näher zum
Spiegel heran. „Aber da steht nichts“, entgegnete sie.
„Siehst du, ich bin nicht mehr ganz richtig im Kopf“, sagte er und verstummte.
„So ein Quatsch“, sagte sie und nahm ihm die Flasche aus der Hand. „Ab sofort ist Schluß
damit und wir gehen dein Problem gemeinsam an. Ob du nun willst oder nicht!“
„Aber ich war doch so scheußlich zu dir und dieser scheiß Alkohol“, sagte Sirius und
fing zu weinen an.
„Ja, du warst unerträglich, aber das war nicht mein Sohn, nicht mein Sirius. Wir werden
einen geeigneten Therapieplatz für dich finden und ich möchte dich gerne dabei
begleiten. Bist du damit einverstanden?“ Sirius nickte und klammerte sich in ihrem Arm,
wie er es als Kind schon immer getan hatte.
„Wir schaffen das“, flüsterte seine Mutter. „Der Alkohol war einfach der falsche Weg.“
Die nächsten Wochen wurden für Sirius schwierig aber es ging langsam bergauf. Das
Verlangen nach etwas Alkoholischem konnte er dank einer Therapie eindämmen, und er
schaffte es auch, endlich Gefühle, den Verlustschmerz zuzulassen. Er weinte hemmungslos,
bis er erschöpft zusammenbrach.
Hallo Papa,
Es gibt immer noch Momente, wo ich Angst habe, in mein altes Raster zu fallen. Du fehlst
mir so sehr.
Ich mache seit ein paar Wochen zusammen mit Mama eine Therapie. Sie hat mich dazu
überredet, aber diese furchtbare Schuld lastet auf mich. Ich habe dich schließlich dazu
gebracht, nochmal in die Uni zu fahren, um mein Arbeitsbuch zu holen, weil ich keine
Lust hatte, es selber zu holen. Und dann bist du – für mich- in das Auto gestiegen und
bist nicht mehr wiedergekommen. Der Innenspiegel war im Auto abgefallen und du
versuchtest ihn noch während der Fahrt wieder anzubringen, aber dann kam die Kurve - so
sagte es der Autofahrer, der hinter dir herfuhr. Es tut mir so leid. Wäre ich nur
gefahren!
Diese Schuldgefühle haben mich daran gehindert, Abschied zu nehmen, so erklärte es mir
mein Therapeut.
Papa, ich bin sehr dankbar und stolz, dass du mein Vater warst. Du wirst immer in meinem
Herzen bleiben.
Sirius
„Schau dir nur diesen Stern am Himmel an!“, sagte Sirius eines Abends zu seiner
Mutter.
Sie schaute durch das Teleskop und sah in den wolkenfreien, kalten Winterhimmel.
„Es sind so viele Sterne am Himmel zu sehen aber welchen meinst du genau? Eigentlich
sehe ich nur Punkte“, sagte sie.
„Na, der am hellsten blinkt.“ Wieder schaute sie durch das Okular.
„Sirius, du hast recht. Wie hell dieser Stern nur ist. Wie heißt er?“ Sirius zuckte mit
den Achseln. Er kannte die Sterne und Planeten sehr genau, aber diesen Stern sah er zum
ersten Mal.
„Das muss ein ganz besonderer Stern sein“, flüsterte seine Mutter und drehte sich
lächelnd um. Sirius nickte und sprach leise: „Das ist Papa.“ Sein Tagebuch hielt er fest
in den Händen.
Er stand auf, schaute mit einem Lächeln in den antiken runden Spiegel, den sein Vater
noch liebevoll restauriert hatte, bevor er der hellste Stern am Himmel wurde.
Auf dem staubigen antiken runden Spiegel war ein Lächeln gezeichnet…
***
Gloria von Koslow und Boris Grunzow
Russland
Sie konnte weder sein Aftershave riechen, noch seine zarte Haut berühren. Aber ihre
Erinnerung an seine mandelförmigen hellbraunen Augen und schwarzen Haaren sind nie
verblasst.
Diese Geschichte erzählt von einer stets fein gekleideten Dame, Anfang fünfzig, die
seit zwanzig Jahren jeden Sonntag zur gleichen Uhrzeit das Restaurant „Zum goldenen
Arbat“ besuchte.
Gloria von Koslow entzückte mit ihrem frischen und strahlenden Aussehen ausnahmslos,
doch ihre
Gemütslage konnte sich minütlich zwischen melancholisch und Aufgebrachtheit, ja fast
explodierend ändern, was an jenen Abend passierte:
„Wo ist Alfons und wieso liegt nur ein Gedeck an meinem Tisch? Bringen Sie flink
noch ein
Gedeck für meinen Freund Hektor, der wartet nämlich ungern!“
„Oh, ich habe nicht gewusst, dass sie noch jemanden erwarten“, sagte die junge
Kellnerin Kascha freundlich.
„Wieso erwarten? Meine Begleitung sitzt bereits oder haben sie Tomaten auf den
Augen?“
„Verzeihen Sie, Frau von Koslow, aber an ihrem Tisch sitzt niemand“, erwiderte
Kascha verwirrt.
Gloria lief rot an und wollte gerade zu einer gepfefferten Predigt ausholen, da kam
schon der
Oberkellner Rudi zu ihrem Tisch herbeigeeilt.
„Verzeihen Sie, Frau von Koslow, aber Kascha hat diese Woche bei uns neu angefangen
und konnte nicht wissen, dass“
„Ihr Name ist Kascha? Etwa wie Buchweizengrütze?“ unterbrach Gloria ihn.
„Ich mag meinen Namen und Buchweizengrütze auch“, erwiderte Kascha freundlich.
Gloria sah die junge Kellnerin erstaunt an und reagierte prompt: „Kascha - Kascha. Wie
dem auch sei. Bringen sie mir endlich die Menükarte und Alfons!“ Der Oberkellner nickte
Kascha auffordernd zu. Dann setzte er sich neben Gloria, faltete seine Hände wie zu
einem Gebet und sprach mit gedrückter Stimme: „Alfons Herz hörte vorletzte Nacht auf zu
schlagen. Wir sind zutiefst bestürzt und können es noch immer nicht fassen.“
Gloria sah den Oberkellner einige Minuten reglos an, bis er ihre Hand nahm und
erzählte, wann und wo die Beerdigung von Alfons stattfinden wird.
„Nein, das kann doch nicht sein - wer soll denn jetzt hier kochen? “, flüsterte
Gloria.
„Wir bemühen uns, jemanden zu finden, der genauso leidenschaftlich und kreativ
kochen kann, und…“ Doch Gloria winkte schnell ab und fing zu weinen an.
Der Oberkellner gab ihr ein Taschentuch und fuhr sanft fort: „Wir bedauern sein
verfrühtes Ableben aber wie wir erst jetzt erfahren haben, war er herzkrank und...“
„Wie bitte? Aber davon hätte mir doch Alfons erzählt“, unterbrach Gloria wieder.
„Und außerdem war er noch nicht so alt!“
„Alfons war 83 Jahre alt, Frau von Koslow. Es war für ihn eine immense körperliche
Belastung und eine Seltenheit, dass er in seinem Alter noch am Herd stand und die
schönsten und kreativsten Gerichte zauberte.“
„Wollen sie mir jetzt die Schuld an seinem Tod geben?“, fuhr Gloria ihn plötzlich
an.
„Nein, so war das nicht gemeint, aber Alfons kochte, kochte und kochte. Er hat sich
leider selbst
dabei vergessen. Dennoch waren sie sein liebster Gast - Frau von Koslow. Für sie hat er
auch mal die Shrimps anbrennen lassen, nur um mit ihnen herzlich plaudern zu können. Und
wenn ich das mal so ausdrücken darf - sie waren wie eine Tochter für ihn.“ Rudi drückte
dabei behutsam Glorias Hand.
„Ich weiß“, sagte Gloria mit heiser Stimme. „Doch nun ist er fort. Für immer.“
Gloria lächelte den Oberkellner gequält an und sah traurig zur Küchentür hinüber.
Das Restaurant war an diesem Tag ungewöhnlich wenig besucht. Im Hintergrund erklang
leise das Tchaikovsky Streichquartett.
„Darf ich ihnen etwas bringen?“, fragte der Oberkellner nach einer Schweigeminute.
„Danke aber mir ist nicht nach Speisen zumute. Komm Hektor, wir gehen nach Hause“,
sagte Gloria und blickte auf den leeren Stuhl neben sich.
Der Oberkellner nickte verständnisvoll und begleitete Gloria zur Garderobe.
Fünf Wochen vergingen, bis Gloria wieder einen Fuß in das Restaurant machte und an sich
ihren gewohnten Tisch setzte. Sie lauschte der gewohnt zeitlosen Musik, beobachtete das
Personal, die zuvorkommenden
Höflichkeit des Tisch Zuweisers; alles schien wie immer aber irgendwas war doch anders.
In ihrer hektischen Art winkte Gloria die junge Kellnerin Kascha zu sich heran.
„Bringen sie mir die Tageskarte, junge Dame“, sagte Gloria mürrisch.
Kascha nickt kurz und eilte davon. Es dauerte nur Sekunden, bis sie mit der
Menükarte in der Hand wieder am erschein, aber für Gloria schien das eine Ewigkeit
gedauert zu haben.
„Warum brauchten sie so lange?“, fragte Gloria, ohne sie dabei anzuschauen.
Kascha verkniff sich eine Antwort und fragte stattdessen: „Darf ich Ihnen zu Beginn
einen Aperitif anbieten und eine Vorspeise empfehlen?“
Gloria guckte sie nun von oben herab an und fing an zu grinsen.
„Gerne, und bringen sie dazu noch ein zweites Gedeck für meinen Freund Hektor!“
Kascha nickte freundlich und verschwand Richtung Küche. und war überraschend schnell
wieder mit einem zweiten Gedeck und einer Vorspeise zurück. Doch ihre schnelle Mühe war
vergebens:
„Hatten sie etwa keine gute Kinderstube, Fräulein?“, warf Gloria barsch ein, „oder
warum brauchten sie so lange?“ Kascha lief rot an und wollte etwas erwidern - da fuhr
Gloria ungeniert in einer arroganten Tonart fort und faltete dabei langsam ihre
Servierte auseinander: „Ich bemerke, sie sind stets um eine sorgfältige und flotte
Arbeitsweise bemüht, doch in ihnen steckt ein anderes Potenzial. Meine Begleitung ist
übrigens auch meiner Meinung!“
„Was genau meinen Sie damit, Frau von Koslow?“, fragte Kascha und versuchte, ihre
Wut nicht anmerken zu lassen.
„Sie erinnern mich an jemanden aus längst vergangenen Tagen. Aber vielleicht täusche
ich mich auch. Ach, wie dem auch sein, gehen sie wieder an ihre Arbeit.“
Gloria schaute der jungen Kellnerin nachdenklich hinterher, bis ihr Blick auf das
ihr vorliegende Dessert fiel. Ihr Gesichtsausdruck wurde plötzlich aschfahl.
„Kascha!“, rief sie aufgebracht. „Nehmen sie das sofort wieder mit. Abscheulich
sieht das aus!“
„Darf ich fragen, was mit der Vorspeise nicht stimmt?“, fragte Kascha verwundert.
„Wer hat das zubereitet?“
„Der Chefkoch“, antwortete Kascha.
Gloria kramte aufgewühlt einen kleinen Notizblock aus ihrer Handtasche und schrieb:
Chefkoch!
Wenn Sie die Absicht besitzen, nur Ansatzweise so gut zu sein wie es der Alfons
gewesen
war, dann bemühen sie sich in Zukunft besser in der Optik ihrer Gerichte.
Erstklassig sieht diese Vorspeise- wenn man sie so nennen kann - nicht aus.
Gloria von Koslow
Die junge Kellnerin nahm mit einem Kopfnicken die Vorspeise und den Zettel auf und
verschwand.
Gloria hingegen nippte angespannt an ihrem Aperitif, schloss die Augen und lauschte
wieder der Musik.
„Was ist los?“, fragte Boris.
„Ach, an einem Tisch sitzt ein Gast, die eine dermaßen furchtbare Schrulligkeit
besitzt - kaum auszuhalten. Und du hast Post von ihr“, sagte Kascha und reichte Boris
den gefalteten Zettel.
Boris überflog die paar Zeilen und schaute verwundert auf. „Ist die Dame noch da?“
„Ja, sie sitzt hinten links am zweiten Tisch und führt Selbstgespräche.“
Boris trat aus der Küche und blickte zu dem Tisch, an dem Gloria noch immer mit
geschlossenen Augen saß. Er blieb einen Moment regungslos stehen und atmete dann tief
durch. Als er wieder in die Küche schritt, drehte er sich noch einmal kurz zu Gloria um
und lächelte.
„Und, hast du ihr deine Meinung gesagt?“, fragte Kascha sofort.
„Kascha, nimm dir ihre Worte nicht weiter zu Herzen. Man kann es nie allen recht
machen.“
„Wie? Du hast mit der arroganten Schnepfe nicht gesprochen?“
„Nein, aber was hat sie den eigentlich bestellt?“
„Die Vorspeise habe ich ihr empfohlen, als Hauptgang hat sie eine kleine Schüssel
Olivier mit Krebsfleisch gewählt und als Nachspeise Syrniki mit Warenje.“
„Gut, dann werden ich der anspruchsvollen Dame einen perfekten Olivier zaubern“,
sagte Boris und zwinkerte Kascha zu.
„Ärgert dich das überhaupt nicht?“, fragte sie.
„Nicht im Geringsten“, gab er gelassen zur Antwort und fing an, eine Zwiebel in
winzig kleine Würfel zu schneiden. Dabei pfiff er fröhlich ein Liedchen vor sich hin.
Als der Salat fertig angerichtet war, nahm Boris anschließend Papier und Stift zur Hand.
„Kascha, du kannst jetzt dem speziellen Gast den Hauptgang servieren“, rief Boris.
„Was ist das?“, fragte Kascha entsetzt.
„Salat Olivier ala Boris Grunzow“, erwiderte er selbstbewusst.
Kascha schluckte und sagte: „Wenn ich ihr das Serviere und sie mir den Teller um die
Ohren haut, kannst du was erleben! Außerdem kann ich doch den Gästen keine Briefchen
überreichen. Und was soll ich der Dame erzählen, von wem der Zettel ist?“
„Na vom Chefkoch und mit besten Grüßen.“
„Kann das nicht jemand anderes übernehmen?“
„Nein, aber manchmal gibt es auch anstrengende Gäste, und daran solltest du dich
gewöhnen.“ Kascha gab nach und seufzte.
Vorsichtig setzte die junge Kellnerin den Hauptgang auf den Tisch ab und legte den
Zettel zu Glorias rechten Seite.
Sehr geehrte Frau von Koslow,
Mein Handwerk und Kreativität in der Zubereitung der Speisen gebe ich mir stets Mühe
und es entspricht den höchsten Ansprüchen dieses feinen Restaurants, das mit 3 Sternen
ausgezeichnet ist!
Ich habe zur Kenntnis genommen, dass die servierte Vorspeise nicht ihren Erwartungen
entsprach (das sehr bedauerlich ist), aber haben Sie das Pilzkaviar einmal probiert?
Guten Appetit wünscht
Ihr Chefkoch
„Mein Chefkoch? Was bildet der sich eigentlich ein?“, sagte Gloria erbost. „So eine
Frechheit! Ich will ihn sofort sprechen.“ Kascha nickte und rannte in die Küche. Doch
sie kam mit hochrotem Kopf wieder zurück und stotterte: „Verzeihen sie, aber der
Chefkoch hat soeben Feierabend gemacht.“
Gloria lachte laut und klatschte in die Hände. Die wenigen Gäste schauten
erschrocken auf und schüttelten mit den Köpfen.
„So ein Schlawiner aber ist schon gut Kascha. Sie können ja nichts dafür. Aber
wenigsten sieht der Hauptgang ganz hübsch aus.“
„Guten Appetit“, sagte Kascha und ging vom Tisch ab.
Gloria nahm den Zettel nochmal auf und las ihn durch.
„Was denkst du Hektor, wird uns der Salat munden?“
Gloria wandte ihr Gesicht zur Seite und fragte wieder: „Was sagst du? Der Salat
schmeckt göttlich?“
Dann stocherte sie akribisch in dem Oliviersalat herum und suchte nach Möhren,
konnte aber zu ihrer
Erleichterung keine finden. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Eine Woche später betrat Gloria wieder zur gewohnten Zeit das Restaurant.
„Guten Tag Frau von Koslow. Schön Sie wiederzusehen“, begrüßte sie der Oberkellner
Rudi und zog ihr zuvorkommend den Stuhl zurück.
„Ganz meinerseits aber sagen sie, wo ist Kascha?“
„Ihre Schicht beginnt in einer halben Stunde.“
„Oh, dann bringen sie mir bitte fürs erste nur einen grünen Tee.“
„Ganz wie sie wünschen“, erwiderte der Oberkellner und nahm die Bestellung auf.
Kurze Zeit später trat Kascha ihre Schicht an und ließ ihren Blick durch das gut
besuchte Restaurant schweifen. Aus der Entfernung sah sie Gloria wie immer alleine an
ihrem Tisch sitzen. Ihren Kopf hatte sie zu dem leeren Stuhl rechts neben sich geneigt
und redete.
Kascha schüttelte mitleidig den Kopf und ging zu ihr.
„Guten Tag Frau von Koslow. Wie geht es Ihnen?“, fragte sie freundlich.
„Kascha, da sind sie ja endlich. Ich habe auf sie gewartet.“
„Oh, das freut mich. Haben sie schon aus der Karte gewählt?“
„Nein. Können sie mir etwas empfehlen?“
„Pirogge und Kutja. Weißer Kaviar und schwarzes Gold ist heute sehr zu empfehlen.“
Gloria gurrte: „Wie lange habe ich schon nicht mehr Weißen Kaviar genossen. Bringen
sie mir bitte davon eine kleine Portion und Pirogge mit Nussfüllung. Und für meine
Begleitung Bliny mit schwarzen Gold.“ Gloria Lächelte beglückt zu dem freien Platz neben
sich.
„Sehr gerne“, antwortete Kascha.
In der Küche sprach Kascha sofort den Chefkoch Boris auf das Verhalten von Gloria
von Koslow an, aber Boris antwortete gelassen: „Keine Panik Kascha, die Dame ist ganz
gewiss Charmant und liebenswert. Manchmal muss man den Menschen so nehmen wie sie sind.“
„Sie ist trotzdem komisch. Sie spricht mit jemanden, der überhaupt nicht an ihrem
Tisch sitzt“,
behaarte Kascha und gab die Bestellung von Gloria an Boris weiter. Eine halbe Stunde
später servierte die junge Kellnerin das Essen.
„Was ist das?“, fragte Gloria entgeistert.
„Vom Chefkoch höchstpersönlich“, antwortete Kascha und zeigte auf das kleine
Kärtchen neben dem Teller, auf dem Stand:
Guten Abend Frau von Koslow,
Ich habe mir gedacht, mehr Abwechslung auf dem Teller zu bringen.
Eine neue Kreation, die nur ganz besondere Gäste an zuerst probieren dürfen.
Bitte lassen Sie mir zukommen, wie es Ihnen und Ihrer Begleitung geschmeckt hat.
Ihr Chefkoch
Gloria begutachtete akribisch das Gericht von allen Seiten, stocherte dann mit der Gabel
darin
herum und probierte anschließend.
Angewidert verzog sie das Gesicht und spuckte es dann diskret in die Serviette.
Erneut winkte Gloria die junge Kellnerin zu sich heran und notierte auf der Rückseite
vom Kärtchen:
Guter Chefkoch!
Soll das ihr Ernst sein? Das sieht wie Abfall auf dem Teller aus und schmeckt aus
so!
Gloria von Koslow
Kascha nahm ohne Nachfrage den Teller auf und ging damit zurück in die Küche. Gloria
hingegen stand auf und verließ das Restaurant.
Kascha stellte den Teller mit dem weißen Kaviar und den Blinys vor Boris Nase und
sagte ironisch: „Hm, du hast so recht. Manchmal muss man den Menschen so nehmen wie er
ist und was er isst!“
„Wie bitte?“, fragte Boris und las die Antwort.
„Hä? Wie Abfall?“, rief Boris entrüstet.
Ohne zu zögern schob er sich und Kascha etwas von dem Kaviar in den Mund. Beide
kauten langsam und genüsslich, dann schauten sie sich ratlos an.
Boris lehnte sich seufzend gegen den Küchentresen und meinte: „Besser kann der weiße
Almas-Kaviar nicht sein. Er schmeckt mild,
intensiv aber nicht zu salzig. Die kleinen Fischeier zergehen wunderbar cremig auf der
Zunge. Eine Delikatesse und eine riesengroße Unverschämtheit, sowas als Abfall zu
bewerten!“
Kascha nickte zustimmend und erwiderte: „Und was willst du jetzt machen?“
„Was diesem Gast angeht, lass mich mal machen. Und übrigens, es wäre eine Schande,
den Kaviar jetzt einfach zu entsorgen. Nimm es nach Feierabend mit nach Hause“, sagte
Boris und drehte sich doch sehr enttäuscht zur Seite.
Eine Woche später.
Kascha hatte an diesem Sonntag frei und so musste Gloria sich mit der Bedienung vom
Oberkellner Rudi und zwei weiteren - ihrer Meinung nach inkompetenten Personal -
zufriedengeben.
Rudi konnte die Unzufriedenheit in ihrem Gesicht gut ablesen, doch Gloria konnte
ohne Probleme dies mit einem Lächeln überspielen.
Stumm zeigte Gloria nur mit dem Finger - auf dem ein zierlicher Ring, der mit einem
funkelten
Smaragd und zehn kleinen Diamanten versehen war, auf zwei Gerichte der Menükarte.
Rudi notierte die Bestellung wortlos mit einem freundlichen Kopfnicken, denn er
wusste ganz genau, wenn Gloria von Koslow nichts zu sagen pflegte, dann war es nicht ihr
Tag. An solchen Tagen bat sie noch nicht einmal um ein extra Gedeck für ihre invisible
Begleitung.
Als Gloria kurze Zeit später wieder von ihrem Toilettengang zurück war und an ihrem
Tisch Platz nahm, fand sie ein kleines Kärtchen vor:
Guten Abend Frau von Koslow,
Heute bemühe ich mich besonders, Ihren ganz persönlichen Geschmack zu treffen.
Bitte erlauben Sie mir, nach Ihrer Vorspeise drei Häppchenlöffel zur Verkostung
servieren zu dürfen.
Ihr Chefkoch
Gloria kratzte sich nachdenklich am Kopf und blickte sich nach dem Oberkellner um, doch
der stand hinter der Bar Theke und war mit einem aufwendigen Cocktail zu kredenzen
beschäftigt. Gloria beschloss, einfach den Chefkoch persönlich aufzusuchen und machte
sich Richtung Küche auf.
Vorsichtig öffnete sie die Schwingtür zur Küche und spähte hinein.
Ein Mann, Mitte fünfzig und mit staatlicher Figur stand mit dem Rücken zu ihr und
schnippelte im
Akkord Karotten. Im Hintergrund lief das Küchenradio. Niemand beachtete Gloria, die wie
versteinert in der Tür stand und auf Boris starrte. Augenblicke später schritt sie leise
von der Tür zurück.
„Alles in Ordnung, Frau von Koslow?“, fragte der Oberkellner Rudi besorgt.
„Ja natürlich“, antwortete Gloria. „Ich hätte jetzt gerne diese Probierlöffel.“
Rudi kam er mit einem silbernen Tablett zurück, auf dem drei Häppchenlöffel
angerichtet waren und servierte: Dorschleber mit Trüffelkartoffel, Russisch Ei und
Kolatsche. Gloria betrachtete den Löffel mit dem Ei und fragte: „Was soll nun daran
besonders sein?“
„Probieren Sie“, antwortete Rudi. „Es ist ein Gedicht!“
Gloria schob sich den kleinen Löffel in den Mund und kaute zunächst schnell, dann
aber immer langsamer. Ihre Augen leuchteten vor Begeisterung auf.
„Eingelegter Kaviar in Aspik im Ei, verfeinert mit einem Hauch saurer Sahne, Frau
von Koslow.“
„Ich muss gestehen, ein Gaumenschmaus. Hätte der Chefkoch vielleicht noch eine etwas
mehr davon für mich übrig?“, fragte Gloria und sah dabei den
Oberkellner blinzelnd an.
„Gewiss, ich werde sehr gerne Nachfragen“, erwiderte Rudi überrascht und wandte sich
freundlich ab.
Nur ein paar Minuten später erschien Rudi mit einem üppig gefüllten Teller mit den
eingelegten Eiern und einem kleinen Zettel. Sofort nahm Gloria die Nachricht entgegen
und vernahm folgende Zeilen:
Guten Abend Frau von Koslow,
es freut mich zu hören, dass Ihnen meine Verkostung geschmeckt hat.
Kochen ist meine Leidenschaft, und es bedeutet mir sehr viel, meine Gäste zu
verwöhnen.
Ihr Chefkoch
Gloria schmunzelte und stieß einen kurzen Seufzer aus.
„Ach sagen sie Rudi, wie heißt der Chefkoch eigentlich?“
„Er heißt Boris Grunzow.“
„Danke Rudi.“ Gloria verschränkte die Arme und dachte eine Weile nach. Dann kramte
sie einen Stift aus ihrer Handtasche und schrieb dem Chefkoch:
An den Sternekoch,
Ihre Eier waren erste Wahl.
Eine erlesene Lieblichkeit, die ich jeden Tag Verkosten könnte. Das findet übrigens
mein Freund auch.
Großes Lob!
Ich lasse mich gerne weiter von Ihnen überraschen.
Gloria von Koslow
„Ah ha, deine Eier waren also erste Wahl. Habe ich etwas Pikantes verpasst?“, fragte
Kascha und grinste amüsiert, als sie die Zeilen vorgelesen hatte.
Boris Gesicht lief hochrot an. Schnell riss er ihr den Zettel aus der Hand.
„Sei nicht so frech, kleines Fräulein. Sonst muss ich mit deinem Vater ein ernstes
Wort reden. Und überhaupt, was liest du eigentlich meine Briefe?“
Kascha lachte und schüttelte mit dem Kopf: „Ist schon gut. Ich soll dich übrigens
von ihm grüßen. Er konnte überhaupt nicht verstehen, dass dein Gericht bei dem Gast
nicht ankam.“
„Geschmäcker sind halt unterschiedlich“, brummte Boris. Kascha sah ihn einen
Augenblick prüfend an.
„Was ist?“, fragte Boris leicht genervt.
„Ich habe da so ein Gefühl.“
„Und das wäre?“
„Also, wenn ich es nicht besser wissen würde, dann kennst du die mürrische Dame!“
„Quatsch!“, widersprach Boris hektisch und lugte vorsichtig durch den Türspalt in
den Speisesaal. Gloria saß einige Meter entfernt an ihrem Tisch und unterhielt sich.
„An ihrem Tisch sitzt doch niemand. Oder ist ihr Freund etwa schon gegangen?“,
fragte er irritiert.
„Boris, das meine ich doch schon die ganze Zeit. Diese Frau redet mit einem
unsichtbaren. Meiner
Meinung ist sie nicht bei Verstand!“
Doch Boris war längst wieder in seiner Arbeit vertieft und schwelgte in Gedanken.
Eine Woche später saß Gloria wieder zur gewohnten Zeit am selben Tisch und ließ den
Blick
durch das gut besuchte Restaurant schweifen.
Aufgeregt blickte sie zur Küchentür, die permanent vom Personal auf und zu ging.
Sie zog einen kleinen Handspiegel aus ihrer Tasche und versicherte sich, dass ihre
dezente Schminke nicht verlaufen war, zupfte ihre rot gekräuselten Haare etwas zurecht
und legte roten Lippenstift nach.
Sie spürte den Blick der anderen Frau am Nebentisch, die sie neugierig aber auch
neidisch anstarrte.
Zwei Männer warfen ihr einen schmachtenden Blick zu.
„Sie sehen heute wieder umwerfend aus“, sagte der Oberkellner Rudi wie immer
charmant zu ihr und legte dabei diskret einen gefalteten Zettel zu dem Glas Wasser.
Gloria nickte dankend, nahm den Zettel und begann zu lesen:
Guten Abend Frau von Koslow,
mir fiel gestern Nachmittag etwas ein, wie ich Ihre Geschmacksknospen auf der Zunge
in
Verzückung bringen kann.
Lassen Sie sich überraschen!
Ihr Chefkoch
Gloria Lächelte erwartungsvoll und lehnte sich entspannt in ihrem Stuhl zurück. Dabei
schlug sie elegant ihre schlanken Beine übereinander und wartete auf das
Überraschungsessen.
Nur fünf Minuten später kam Kascha mit einem großen Tablett wieder und servierte den
besten Pata Negra Schinken mit Olivenbrot und Risotto mit weißem Trüffel. Wie zu
erwarten schaute Gloria zunächst skeptisch drein, aber fing dann doch mit der Verkostung
an. Nach zehn Minuten hatte Gloria genug und winkte die junge Kellnerin wieder zu sich
heran.
„War alles zu Ihrer Zufriedenheit?“, fragte Kascha vorsichtig. Salopp winkte Gloria
nur ab und machte eine Notiz. Anschließend drückte sie den Zettel Kascha in die Hand und
verließ ohne Worte das Restaurant.
An den Chefkoch,
ich muss sagen, es hat mir heute nicht geschmeckt!
Es war fad und eintönig.
Wissen Sie, ich möchte ein Gericht, wo ich nicht aufhören kann zu essen!
Um ehrlich zu sein, der Imbiss um die Ecke hat mehr „Pfiff“ !!!
Ich war der Ansicht, hier ist der Gast König.
Gloria von Koslow
Als Boris die Zeilen gelesen hatte, zerknüllte er gereizt den Zettel und warf ihn in den
Müll.
„Dein Gesicht spricht Bände“, stellte Kascha fest. Tröstend umarmte sie Boris
schließlich.
„Willst du mir deine Geschichte nun endlich erzählen?“, fragte sie.
Boris atmete tief durch und löste sich aus ihrer Umarmung.
„Es ist schon fünfundzwanzig Jahre her, dass ich sie zum letzten Mal gesehen habe“,
erzählte Boris und sah dabei zu Boden.
„Wenn?“, fragte Kascha.
„Die Frau, die draußen am Tisch sitzt. Gloria von Koslow.“
„Ich habe es doch gewusst“, sagte Kascha und verschränkte ihre Arme. „Erzähle bitte
weiter.“
„Gloria war meine große Liebe, mein Leben. Ich habe alles für sie getan, wirklich
alles - doch so sehr ich mich auch bemüht hatte, konnte ich nicht mit ihrem unsichtbaren
Freund mithalten.“
„Hä? Das verstehe ich nicht“, sagte Kascha.
„Genau das habe ich auch nicht verstanden. Gloria ist halt etwas speziell.“
„Aber warum hast du sie nie danach gefragt, wer genau dieser Freund ist?“
„Habe ich ja, aber ich bekam nie eine Antwort. Sie machte regelrecht ein Hehl
daraus. Na ja, irgendwann fragte ich nicht mehr. Dann, kurze Zeit später bekam ich ein
Angebot, was ich nicht ausschlagen konnte. Endlich konnte ich meine professionellen
Kochkünste in einem Spitzenrestaurant zeigen. Davon hatte ich immer schon geträumt, nur
Gloria nicht. Sie war außer sich, als ich ihr davon erzählte, verstand es einfach nicht
und warf mich letztendlich vor die Tür.“
„Einfach so? Nur aus diesem Grund?“, fragte Kascha fassungslos.
„Na ja, das Spitzenrestaurant war in Dubai. Am Ende kam zu keiner Aussprache. Jeder
ist seinen Weg gegangen, wir haben uns nicht mehr gesehen.“
„Sowas kann ich nicht glauben. Hat sie sich denn äußerlich viel verändert?“, wollte
Kascha aber dann doch wissen. Boris lächelte verschmitzt und schüttelte mit dem Kopf.
„Nein, nein. Nur älter sind wir geworden, aber ihre Art und Stil ist geblieben. Sie ist
einfach unverkennbar.“
Kascha überlegte einen Augenblick und sagte dann: „Jetzt wird mir auch einiges klar,
warum sie immer auf ein zweites Gedeck an ihrem Tisch besteht, obwohl sie keine
Begleitung dabeihat.
Warum gehst du eigentlich nicht zu ihr? Briefchen schrieben ist doch echt
Kinderkram.“
„Aber auch amüsant“, antwortete Boris. „Außerdem will ich sie nicht überrumpeln.
Vielleicht nimmt sie mir meine Entscheidung von damals noch übel.“
„Nach fünfundzwanzig Jahren?“ Kascha lachte. „Das glaube ich nicht. Ich denke eher,
du hast einfach nur Schiss!“ Boris Blick verriet, dass sie recht hatte.
„Mir ist diese Art von Kommunikation erstmal lieber. Aber was ist so schlimm daran?“
„Ist schon gut. Du musst selber wissen, was gut für dich ist.“
„So ist es. Was habe ich nur für eine aufmerksame und kluge Nichte“, schmunzelte
Boris.
So vergingen einige Wochen ohne besondere Vorkommnisse im Restaurant. Der Herbst trat
schließlich ein und zeigte sich in seinen prachtvollen Herbstfarben.
Gloria betrat an jenen Abend mit froher Stimmung das Restaurant „Zum goldenen
Arbat“.
„Guten Abend Frau von Koslow. Möchten Sie ein zweites Gedeck für ihre Begleitung?“,
fragte
Kascha vorsichtig nach, als Gloria an ihren reservierten Tisch Platz nahm.
„Sehen Sie hier noch jemanden sitzen?“, erwiderte Gloria höhnisch.
„Nein aber ich dachte...“, sprach Kascha stotternd.
„Was Sie immer denken. Geben Sie mir lieber die Menükarte, anstatt mir unsinnige
Fragen zu stellen!“
Kascha lief vor Demütigung rot an und knallte diesmal mutig die Menükarte auf den
Tisch. Verdutzt aber mit einem Grinsen schaute Gloria ihr hinterher, als Kascha sich
ohne Worte zum nächsten Gast begab.
„Wie ihr Onkel!“, schmunzelte Gloria schließlich und gab beim Oberkellner ihre
Bestellung auf.
Nur zehn Minuten später kam es dann zum Eklat.
„Kascha! Was ist das denn hier für eine Frechheit?“
Die junge Kellnerin trat an Glorias Tisch und sah mit Entsetzen auf den Teller.
„Wo ist der Koch, der mit so ein Schweinkram serviert?“, fragte Gloria aufgebracht.
Aber statt zu antworten, legte sie schnell einen Zettel auf den Tisch und blieb am Tisch
stehen.
Guten Abend Frau von Koslow,
da Sie meine Spezialitäten vom letzten Mal nicht zu würdigen wussten, habe ich mir
gedacht, Ihnen ein Gericht ihrer Wahl, nämlich das „Um die Ecke“
Niveau zu servieren. Wohl Bekommens!
Eine Frage habe ich noch: meine Begleitung für eine Operette im Opernhaus hat leider
abgesagt.
Hätten sie vielleicht Lust, mich zu begleiten?
Ihr Chefkoch
Gloria legte das Kärtchen vorsichtig auf den Tisch, nahm einen Stift zur Hand und
schrieb:
An den Chefkoch!
Es ist eine Frechheit, mir diese Speise anzubieten! Currywurst mit Pommes!
Was erlauben Sie sich?
Stil und Klasse habe ich noch und dann stellen Sie noch die Frage, ob ich Sie ins
Theater begleite??
Sind sie wohl nicht ganz bei Trost!
Es bleibt dabei: Nein! Ich will sie nicht sehen!
Sie haben die Sympathie einer verrunzelten Kartoffelscheibe!
Gloria von Koslow
„Sie ist wirklich eine harte Nuss“, stellte Kascha fest und gab Boris die Nachricht.
„Warum tust du dir das an? Es gibt doch noch so viele andere intelligente und schöne
Frauen.“
„Du verstehst das nicht, Kascha“, wandte Boris ein. „Sie ist etwas Besonderes.“
Kascha starrte ihn perplex an.
„Wir sprechen schon von der gleichen Person, die dort draußen am Tisch sitzt,
Selbstgespräche führt und das teuerste und beste Essen der Welt als Müll hinstellt? -
Das musst du mir jetzt erklären!“
„Vielleicht später“, antwortete Boris.
„Nein jetzt! Wenn ich schon der Briefbote bin, dann möchte ich wenigstens eine
einleuchtende Erklärung für dein Verhalten.“
„Vertraue mir. Nun bringe das Essen zu ihr und richte ihr meine besten Grüße aus“,
sagte Boris und gab Kascha ein Tablett mit einer Abdeckhaube.
„Was ist das?“, fragte Kascha mürrisch, ohne unter die Haube zu schauen.
„Eine Überraschung!“, sagte Boris schnell.
Kascha tat widerwillig, was Boris ihr befohlen hatte und begab sich mit dem Essen
und dem Brief an Glorias Tisch. Mit einem Seufzer nahm Gloria den Brief entgegen und las
folgenden Zeilen:
Guten Abend Frau von Koslow,
ich bin sehr unglücklich darüber, dass Ihnen meine Gerichte nicht zusagen.
Geschmäcker sind bekanntlich verschieden aber warum beurteilen Sie meine
Spezialitäten so abwertend? Und warum nehmen Sie meine Einladung nicht an?
Verzeihen Sie, wenn ich das jetzt mal zum Ausdruck bringen darf - warum sind SIE so
trotzig wie ein kleines Kind?
Ach und übrigens: alte Backpflaumen haben noch weniger Sympathie als
Kartoffelscheiben!
So, das wollte ich noch loswerden!
Ihr Chefkoch
„Ist der Chefkoch vielleicht gerade zu sprechen?“, wollte Gloria vom Oberkellner Rudi
wissen. Ihr Ton war dabei freundlich.
„Ich frage gerne für Sie nach“, antwortete Rudi und ging in die Küche. Doch er kam
Augenblicke später wieder zurück und erklärte: „Herr Grunzow macht gerade Pause und ist
außer Haus. Er wird in einer halben Stunde wieder an seiner Arbeit sein, Frau von
Koslow.“
„Danke Rudi. Ich komme etwas später nochmal darauf zurück.“ Rudi nickte nur.
Ungefähr eine halbe Stunde später stand Gloria auf und betrat die Restaurantküche.
Boris stand wieder mit dem Rücken zu ihr und war gerade damit beschäftigt, einen Fisch
auszunehmen.
„Ich sehe, ich komme um einen Besuch bei dir nicht rum“, sagte Gloria. Vor Schreck
ließ Boris das Messer auf dem Tisch fallen und drehte sich langsam um.
Gloria und Boris standen sich nach einem Viertel-Jahrhundert wieder gegenüber.
„Boris, du warst und bist noch immer ein Schlawiner!“, sagte Gloria und ging auf ihn
zu.
„Was machst du denn hier?“, stotterte Boris.
„Mich beschweren! Oder bist du etwa nicht der Sterne Imbisskoch?“
„Doch -nein, aber...!“
„Aber was? Boris, ich habe dein Spiel längst durchschaut! Ich wusste von Anfang an,
dass du es
bist.“
„Wie das?“, wollte Boris wissen und zog sie sanft aus dem Trubel der Küche hinaus.
„Ich habe es am Olivier Salat gemerkt. Er war so liebevoll angerichtet, wie ich ihn
nur von dir kenne“, flüstere sie, als sie im Hintereingang alleine standen.
„Ich weiß, du hast eine Karottenallergie und die Gurken müssen immer in Herzform
geschnitten sein.“
Sie atmeten beide tief durch und sahen sich eine Weile schweigend an, bis Gloria
sagte: „Ich konnte nie richtig loslassen. Du hast mein Herz gebrochen, als du mich
verlassen hast. So wie Hektor, mein Vater!“
„Hektor? Der unsichtbare Freund war dein Vater?“, fragte Boris entgeistert.
„Ja.“, antwortete sie leise.
„Aber Moment mal, ich habe dich nicht absichtlich verlassen! Und du hast nie etwas
von deinem Vater erzählt. Wie sollte ich das ahnen? Erkläre es mir!“
„Du hattest damals deine Entscheidung längst getroffen. Das ganze Fleisch, die
exotischen
Gemüsesorten oder Soßen waren einfach wichtiger!“
„So stimmt das aber nicht“, beharrte Boris. „Es ist halt mein Job, den ich sehr
liebe!“
„Siehst du, genauso ist es heute noch. Ich konnte den glänzenden Mann am Herd nicht
aufhalten und so habe ich dich ziehen lassen.“
„Du machst es dir aber ganz schön einfach“, sagte Boris kopfschüttelnd. „Und jetzt?“
„Und jetzt kannst du mir zeigen, welche emiratischen Speisen du in all den Jahren
erlernt hast.“
Boris senkte lachend den Kopf und blickte dann Gloria mit glasigen Augen an.
„Aber nur mit einer Voraussetzung.“
„Und die wäre?“
„Gib Kascha eine Chance. Ihre Arbeit macht ihr sehr viel Spaß.“
Gloria lachte beherzt auf und antwortete: „Kascha ist eine sehr liebe und wunderbare
Frau. Ein junger Juwel, der sogar in der Dunkelheit beeindruckend glänzt. Und es tut mir
wirklich leid, dass ich sie immer so barsch und unfair angefahren habe. Aber ich musste
sie aus der Reserve locken. Sie ist wie du.“
„Und was ist mit deinem Vater, Hektor?“, fragte Boris. „Sitzt er gerade mit am
Tisch?“
„Nein. Er ist schon länger fort. Ich glaube, er hat jetzt endlich jemanden an seiner
Seite gefunden“, erzählte sie. „Ich habe ihn gehen lassen.“
Boris hielt ein Moment inne und fragte dann verlegen: „Wärst du bereit, das alte,
verlorene Licht in deinem Herzen wieder erhellen zu lassen?“
Gloria ließ ihn absichtlich etwas zappeln und so musste er fünf Minuten auf eine
Antwort warten.
„Vielleicht“, erwiderte sie mit einem Lächeln und trat dabei näher an Boris heran.
Eine Familie zu haben ist wunderbar, aber der ideale Gefährte ist diejenige, der für
andere nicht sichtbar ist. Denn alles beginnt im Kopf; ich existierte nur in ihren
Gedanken; dennoch war ich ihr ein treuer Freund; ein Weggefährte; ein Verbündeter und
vor allem ihr Vater.
Den bitteren Beigeschmack meines grundlosen Fortgehens aus Glorias Leben konnte ich
nicht mehr rückgängig und gutmachen, aber zumindest konnte ich sie wieder zu der Süße
des Lebens führen, welches meine Tochter einmal so geliebt hat.
Hektor von Koslow
Irland-Deutschland
Aveline und Nikolaj
Erschöpft kam ich von der Arbeit und öffnete meinen Briefkasten. Müde nahm ich zwei
Briefe, zerknitterte Werbung und eine Zeitung heraus.
Ich fühlte mich nicht gut. Meine Schläfen pochten seit dem Vormittag und meine Glieder
fühlten sich bleischwer an.
„Diese Treppen!“, fluchte ich, als ich die Tür zu meinem Apartment aufschloss.
Erschöpft warf ich erstmal die Post auf den Küchentisch, hängte meinen Mantel an die
Garderobe und streifte meine schwarzen Stilettos ab.
Es dämmerte bereits, als ich aus dem Küchenfenster schaute und zwei Schmerztabletten
einnahm.
Mein Blick schweifte zur Küchenuhr, die leise tickte, dann zur Aktentasche, die auf
dem Küchentisch lag und der noch unberührten Post. Lustlos zog ich meinen schwarzen
Laptop aus der Arbeitstasche, fuhr ihn hoch und ging meine E-Mails durch.
Müde klappte ich nach wenigen Minuten den Laptop dann doch wieder zu und verschob
meine Arbeit auf den nächsten Tag.
Mein Blick blieb auf der Post haften. Einer davon war vom Gericht. Ich öffnete
diesen, lass ein paar Zeilen und nickte zufrieden.
Der zweite Brief war ebenfalls an mich adressiert - jedoch ohne Absender.
Neugierig machte ich ihn auf:
Guten Tag Frau Aveline Weiß,
Sie wundern sich bestimmt gerade, warum ein unbekannter Sie einfach so anschreibt.
Nun, ich will versuchen, es Ihnen kurz zu erklären: Vor ein paar Tagen faltete ich
eine alte, verstaubte Weltkarte auseinander. Ich betrachtete die Kontinente, glitt mit
verschlossen Augen und mit einem Finger über die Karte, zählte bis zehn und stoppte.
Als ich meine Augen öffnete und meinen Finger (vom Staub der Karte ganz dreckig) auf
Europa sah, hatte ich schon so ein Gefühl.
So weit, so gut. Dann besorgte ich mir eine Landkarte von Europa und wiederholte mit
meinem (sauberen!) Finger die zuvor angewendete Methode auf der Europa Karte.
Ergebnis: Deutschland. Super, ich freute mich richtig.
Nun fragen Sie sich sicherlich auch, wie ich auf ihre Adresse gestoßen bin? Nun,
anschließend jonglierte ich mit ein paar Zahlen, tippte diese dann in das Örtliche
Telefonbuch von Deutschland (Internet) und et voilà: Aveline Weiß.
Ich möchte damit sagen, dass ich ein Experiment mit Zahlen gewagt habe. Mehr nicht.
Ich weiß nicht, ob ihre Adresse (noch) stimmt, aber ich versuche es trotzdem. Ich lebe
und arbeite in Wexford (im irischen Loch Garman).
Bitte bekommen Sie keinen falschen Eindruck von mir. Es ist auch nicht meine Absicht,
Sie zu belästigen oder ihnen gar Angst einjagen zu wollen, aber vielleicht würden Sie
mir eine Antwort geben, ob Sie meinen Brief erhalten haben.
Es grüßt Sie
Nikolaj Nadler
Verwirrt legte ich den Brief aus der Hand, und schaute auf die Verpackung der
Schmerztabletten, die ich zuvor eingenommen hatte. Nein, das Verfallsdatum von dem
Medikament war nicht abgelaufen und mögliche Nebenwirkungen wie Verwirrungszustände
waren nicht beschrieben. Auf der Rückseite vom Brief stand seine Adresse, der in Irland
lebte.
Die Insel konnte ich bisher nur mit Kühen, immergrünem Gras und dem Meer verbinden.
Aber warum schreibt ein Mann einer völlig fremden Person einfach so einen Brief?
Kopfschüttelnd legte ich den Brief zur Seite und ging erschöpft zu Bett.
Am nächsten Morgen wachte ich mit verklebten Augenlidern auf. Meine Schläfen pochten
extrem und meine Augen wollten sich partout nicht öffnen. Mühsam rappelte ich mich aus
dem Bett hoch und schleppte mich in das Badezimmer. Ich wusch meine Augen mit warmem
Wasser ab und sah anschließend in den Spiegel. Ich sah schon lange nicht mehr so
schlecht und krank aus. Doch es war Samstag und ich musste noch ein paar Akten
durchgehen.
Wenig später saß mit einer Tasse Kamillentee an meinen Laptop und studierte mühsam
einen aktuellen Fall durch. Allerdings konnte ich mich nicht auf meine Arbeit
konzentrieren, denn mein Blick schweifte immer wieder zu dem Brief des mir unbekannten
Mannes aus Irland.
Ich schwankte mit dem Gedanken eine Weile hin und her, ob ich diesem Nikolaj
zurückschreiben sollte. Der Brief war sehr freundlich geschrieben, also was sollte mich
davon abhalten, ihm zu antworten. Doch wiederum, was passierte, wenn es eine
hinterhältige Taktik war und ich sein auserwähltes Opfer bin? Doch meine weibliche
Intuition hatte mich noch nie im Stich gelassen und überwand meine anfängliche Skepsis.
Ich beschloss also zurückzuschreiben, doch das war gar nicht so einfach. Ich suchte in
sämtlichen Schubladen und Schränken vergeblich nach weißem Papier. Schnell stellte ich
fest, dass ich weder einen Schreibblock noch Briefumschläge besaß.
Warum auch, denn meine privaten sowie beruflichen Angelegenheiten regelte ich nur über
E-Mail oder Handy. Trotz der Erkältung machte mich noch am Vormittag in die Stadt auf.
In einem Schreibwarenladen kaufte ich einen Briefblock und Umschläge. Als ich fast die
Türklinke in der Hand hatte, fiel mir noch etwas ein.
„Einen Füller brauche ich noch“, sagte ich zu der freundlichen Verkäuferin. Sie
lächelte und zeigte mir verschiedene Füllfederhalter. Ich entschied mich für einen roten
mit sehr feiner Feder.
„Und dieser kleckert auch nicht?“, fragte ich skeptisch. Sie verneinte und ließ mich
Probeschreiben. Ich musste mich erst wieder an die Haltung eines Füllers gewöhnen, aber
es macht erstaunlich viel Spaß, wieder mit einem Füller zu schreiben. Zufrieden ging ich
mit dem erstandenen Schreibzubehör aus dem Laden und wünschte der Verkäuferin noch ein
schönes Wochenende.
Voller Enthusiasmus saß ich eine Stunde später wieder an meinem Küchentisch. Vor mir lag
nun der Schreibblock. In der linken Hand betrachtete ich mit Stolz den neuen Füller, der
mich an längst vergangenen Schultagen, an unzähligen Aufsätzen und den ungeliebten
Hausaufgaben erinnerte.
Dann begann ich zu schreiben:
Guten Tag Herr Nikolaj Nadler,
Ich habe ihren Brief erhalten und möchte Ihnen gerne Antworten.
Ehrlich gesagt, ich war zu Anfang sehr irritiert von Ihrem Brief. Dennoch packte
mich die Neugier.
Erzählen Sie mir, wie kamen Sie genau auf diese Idee?
Sie leben in Irland, doch haben Sie mir in deutscher Sprache geschrieben.
Gibt es eine Verbindung nach Deutschland?
Es Grüßt Sie aus dem herbstlichen Deutschland
Aveline Weiß
Ich brauchte mehrere Anläufe, bis der Brief fertig geschrieben vor mir lag. Das Problem
war, wenn die Tinte einmal auf das Papier gebracht war, konnte keine Korrektur mehr
vorgenommen werden. Der Brief sah in seiner königsblauen Schrift fantastisch aus. Meine
Antwort war zwar kurz und knapp, aber ich war damit zufrieden.
Am Montagmorgen vor Arbeitsbeginn gab ich den Brief beim Postamt auf. Nun hieß es
abwarten.
In der Kanzlei begrüßte mich meine Chefin wie immer mit guter Laune. Doch sie sah
mich fragend an.
„Was machst du hier?“, fragte sie. Irritiert stellte ich meine Aktentasche auf den
Tisch und sah auf meinen Terminkalender.
„Oh, keine Termine heute“, sagte ich.
„Liebes, welches Datum haben wir heute?“ Ich grübelte kurz nach und schlug dann
verlegen meine flache Hand gegen die Stirn.
„Oh Nein! Wie konnte ich das nur vergessen“, erwiderte ich lachend.
„Alles Gute zum Geburtstag“, trällerte meine Chefin und umarmte mich. „Mit Vierzig
geht das Leben erst richtig los.“
“Oder bergab”, erwiderte ich nachdenklich. Wie habe ich dieses Datum nur verdrängt.
Vierzig zu sein, fühlte sich für mich wie ein Schlag in die Magengrube an.
„Du wirst sehen, mit Vierzig kommt das beste Lebensglück. Was hast du heute noch
vor?“, fragte meine Chefin.
„Ich weiß nicht. Vielleicht ein ausgiebiges Bad nehmen oder so.”
„Du hättest ausschlafen können“, erwiderte sie und seufzte. „Nun mach schon, dass du
hier rauskommst. Sonst überlege ich es mir nochmal mit deinem freien Tag.“
„Schon gut“, erwiderte ich mit einem Lächeln und schnappte mir meine Aktentasche.
„Bis morgen früh“, rief meine Chefin noch, bevor sie wieder den Telefonhörer am Ohr
hatte.
Ganz spontan fuhr in die Stadt und setzte mich in ein Café. Wie lange hatte ich das
schon nicht mehr getan.
Als ich aus dem Fenster schaute, fiel mir ein junger Mann auf, der gegenüber aus
einem Buchladen herauskam. Er war adrett und gepflegt gekleidet, vielleicht ein Student
oder Auszubildender. Ich trank meinen Kaffee aus, bezahlte und schlenderte zu dem
Buchladen. Im Schaufenster lagen ein paar Bestseller, die ich aber nicht kannte. Meine
Arbeit ließ es in letzter Zeit nicht zu, ein gutes Buch von Anfang bis Ende zu lesen.
Ich betrat trotzdem den Laden und sah mich zunächst nur um. In einer Ecke entdeckte ich
ein Sachbuchregal.
„Das gibt es doch gar nicht“, sagte ich überrascht, und nahm ein Buch über Irland
aus dem Regal. Ich blätterte darin umher und war sofort von der Insel Irland fasziniert.
Nun wusste ich, was ich zuhause, ganz alleine, an meinem Geburtstag machen würde und
ging mit dem Buch zur Kasse.
Es vergingen drei Wochen, indem ich jeden Tag erwartungsvoll meinen Briefkasten öffnete
und traurig wieder schloss. Ich überlegte, ob ich etwa seine Adresse verkehrt
geschrieben hatte und mein Brief überhaupt nicht bei ihm ankam. Ich war verzweifelt und
dachte das ganze Wochenende darüber nach und beließ es letztendlich darauf, dass jemand
einen Scherz mit mir erlaubt hatte.
Doch eine Woche später lag tatsächlich ein Brief aus Irland in meinen Briefkasten.
Mit Herzklopfen und zittrigen Händen riss ich den Briefumschlag auf und vernahm folgende
Zeilen:
Hallo Aveline,
Ich kann das überhaupt nicht in Worte fassen, wie sehr ich mich darüber freue, dass Sie
mir geantwortet haben.
Darf ich Sie mit Aveline ansprechen?
Gleich zu Anfang habe ich wahrgenommen, welch wunderschöne, schwungvolle Handschrift
Sie besitzen. Beneidenswert.
Nun, ich muss auch gestehen, dass ich bedenken hatte, Sie einfach anzuschreiben.
Zumal ich ein fremder Mensch für Sie bin. Gewiss, man könnte an falsche Personen geraten
und das ist gefährlich und riskant. Doch ich versichere Ihnen hoch und heilig, dass ich
keine abwegigen Gedanken habe.
Sie fragten, ob ich eine Verbindung nach Deutschland habe. Nun, ich spreche Englisch,
ein wenig Irisch und natürlich noch Deutsch. Sie werden erstaunt sein, denn meine
Muttersprache ist Deutsch. Ich bin vor sehr vielen Jahren nach Irland ausgewandert.
Irland ist für mich ein Traum! Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich mag die
Deutsche Gesellschaft, aber so richtig glücklich war ich in Deutschland nie. Als Kind
fühlte ich mich schon von Irland angezogen und ich bereue keinen Tag diesen Schritt
gewagt zu haben. Irland ist mein Zuhause, wo ich mich wohlfühle und verstanden werde.
Alles hier ist anders. Die Luft, die Menschen, die Kultur, das Leben. Alles was ich
bisher erreicht habe, verdanke ich Irland.
Doch nun zu meinem Geistesblitz, denn ich vor ein paar Wochen hatte. Sie fragten,
wie genau ich zu dieser Idee kam, jemanden fremdes einfach anzuschreiben.
Eine Idee, über eine fiktive Zahlenkombination jemanden kennenzulernen ist einmalig.
Finden Sie nicht auch? Und das war mein Versuch – an Sie.
Als kreativ veranlagter Mensch neige ich dazu, auch solche Wagnisse einzugehen. Manchmal
sprudeln mir die Ideen (wie ein Feuerwerk) nur so im Kopf umher. Ab und zu ist die
Umsetzung etwas schwierig und langwierig, aber mit etwas Glück und Geduld machbar.
So wie die letzte mit den Zahlen.
Aveline, können Sie sich vorstellen, unseren Briefwechsel fortzufahren? Keine
Telefonate, sondern nur mit reinem Papier, mit dem wir in Verbindung stehen = eine
Brieffreundschaft.
Was halten Sie davon?
Herzliche Grüße
Nikolaj
Der unbekannte wollte also nur eine Brieffreundschaft.
Ich legte den Brief aus meinen Händen und überlegte, was ich tun sollte. Wie alt
mochte Nikolaj wohl sein und was machte er beruflich? In meinem Kopf spielte sich
diesbezüglich alles Mögliche ab. Seufzend legte ich die Briefe in einen Schuhkarton und
ließ mir ein Bad ein.
Zwei Tage später rief mich meine Chefin zu sich. Sie sah mich kopfschüttelnd an und
fragte: „Was ist in letzter Zeit bloß los mit dir?“
„Nichts“, gab ich zur Antwort.
„Nach nichts sieht das aber nicht aus!“ Sie legte mir demonstrativ eine Akte vor die
Nase, die ich seit zwei Wochen nicht bearbeitet hatte.
„Nächste Woche wäre der Gerichtstermin gewesen“, sagte sie in einem ärgerlichen Ton,
„ich konnte den Termin nochmal verschieben!“
„Ich möchte das Mandat ablehnen“, sagte ich.
Meine Chefin sah mich erstaunt an.
„Warum, Aveline?“
„Laut Paragraph 216 des Strafgesetzbuches droht dem Mandanten eine Gefängnisstrafe!
Ich kenne ihn seit meiner Kindheit und wie soll ich ihn verteidigen, wenn er nicht reden
will?“
„Was er gemacht hat, ist laut unserem Gesetz strafbar“, sagte meine Chefin
eindringlich. „Ich muss diesmal zugeben, dass es ein schwieriger Fall ist. Aber ich
vertraue dir und dein Mandant baut auf dich! Du kennst seine Vorgeschichte am besten.“
„Gut, ich versuche mein Bestes zu geben, aber versprechen kann ich nichts“, gab ich
nach und nahm mit leichtem Widerwillen die Akte vom Tisch.
„In drei Wochen ist übrigens der nächste Termin angesetzt“, rief meine Chefin noch
aus ihrem Büro, als ich meinen Mantel anzog. Ich nickte nur.
Zuhause quälte ich mich stundenlang mit der Akte herum. Die Sache war so verfahren, dass
ich genervt das Protokoll erstmal zur Seite schob.
Sei offen für was Neues, sagte meine Chefin neulich zu mir. Vielleicht hatte sie
recht und nahm Füller und Papier zur Hand. Gut, ich wusste, dass er nach Irland
ausgewandert war und ich musste zugeben, die Idee mit den Zahlen war recht originell.
Ich hingegen hatte als Anwältin nur Fakten und Gesetze im Kopf. Ich muss entsprechende
Regelungen finden, Sachverhalte rechtlich bewerten. Das war meine juristische
Veranlagung und ich liebte sie. Eigentlich.
Hallo Nikolaj,
Natürlich dürfen sie mich mit meinem Vornamen anreden. Bitte verstehen Sie mich nicht
falsch, aber was ist, wenn sie ein sehr junges Mädchen angeschrieben hätten, anstatt
mich? Sie können doch mein Alter überhaupt nicht wissen und das macht mich stutzig!
Eigentlich weiß ich überhaupt nichts von Ihnen, außer, dass Sie nur so vor Ideen
sprühen und in Irland wohnen.
Es Grüßt Sie aus Deutschland
Aveline
Zwei Wochen später kam Antwort aus Irland:
Liebe Aveline,
Sie haben vollkommen Recht. Ich habe, nachdem ich einen Namen (Ihren) hatte, diesen in
die Suchmaschine (Internet) eingegeben. Sie arbeiten als Anwältin in einer Kanzlei – ist
das richtig? Mehr weiß ich nicht von Ihnen. Es tut mir sehr leid, dass ich dies vorab
nicht erwähnt habe. Ich habe eine Tochter und zwei kleine Enkeltöchter. Mir sollen die
Hände abfallen, wenn ich nur daran denken sollte, junge Frauen mit abwegigen
Hintergedanken anzuschreiben.
Ich bin Ihnen nicht böse, im Gegenteil. Man sollte immer seiner ersten Intuition
folgen und dem nachgehen. Darum sind Sie auch Anwältin und zudem noch eine sehr gute.
Ich erzählte meiner Tochter von unserem Briefwechsel. Ist Ihnen das recht? Meine Tochter
Marie fand meinen Versuch mit den Zahlen spannend. Sie erklärte mir aber auch aus ihrer
Sicht, wie sie fühlen und denken würde, wenn sie plötzlich von einem fremden Menschen
einfach so Post bekommen würde. Sie wäre demnach auch kritisch und vorsichtig, aber auch
so mutig und neugierig gewesen wie Sie, liebe Aveline.
Doch jetzt möchte ich Ihnen etwas sehr Amüsantes erzählen. Neulich habe ich mich an
meine erste Donauwelle gewagt. Unglücklicherweise habe ich die Sahnecreme zum Schluss
mitgebacken. Naja, was soll ich sagen, es war dann eher eine Donaumatsche. Geschmeckt
hatte sie aber trotzdem. Das Backen war immer die Spezialität meiner Frau Ann gewesen.
Sie war eine Koryphäe auf diesem Gebiet. Sie richtete jedes Jahr für den St. Patricks
Day (17. März, ein Feiertag) ein halbes Dutzend Donauwellen für unsere Familie und
Freunde her.
Backen Sie gerne und haben Sie einen Lieblingsplatz in der Natur?
Herzliche Grüße
Nikolaj
PS: Sagt Ihnen der Name Morgen Silver etwas?
Langsam ließ ich den Brief in meinen Schoss fallen. Ich fühlte mich gerührt aber schämte
mich zugleich. Manchmal urteilte ich zu schnell und zu hart.
Nikolaj wusste also, wie alt ich war. „Ganz schön pfiffig“, flüsterte ich und gab
meinen Namen bei Google ein. Sofort fand ich zwei Artikel über mich, von denen ich nicht
gewusst hatte, das über mich geschrieben wurde. Sogar mein Alter wurde angegeben. In
einem Artikel wurde zitiert, das ich äußert scharfsinnig und klug geurteilt hätte. Ich
schmunzelte. Der Fall lag einige Monate zurück und da ich Spezialistin im Strafrecht
bin, musste ich den Zeugen bis auf die Unterhose befragen. An diesem Fall konnte ich
mich besonders gut erinnern, denn ich hatte schnell gemerkt, dass die Aussage vom Zeugen
inszeniert und an den Haaren herbeigezogen waren. Ein Drama spielte sich im Gerichtssaal
ab aber mein Mandant bekam letztendlich Freispruch. Gegen den Kläger und Zeugen wurde
ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Falschaussage eingeleitet. Ich lächelte
und tippte den Namen Morgen Silver ein. Eine beachtliche Reihe von Büchern mit diesem
Namen kam heraus. Was wollte Nikolaj mir bloß damit sagen? Sollte ich mehr lesen oder
war es sein Lieblings Autor? Wohnte er vielleicht neben diesem Schriftsteller? Etwas
verwirrt darüber, klappte ich den Laptop zu und wählte die Nummer meines Mandanten
Normen Vogel. Seit über einer Woche war er weder über das Handy noch über
E-Mails erreichbar. Nach längeren Klingeln legte ich wieder auf und überlegte einen
Augenblick.
Es war schon spät, dennoch wollte ich Nikolaj schreiben:
Hallo Nikolaj,
Ich muss mich zunächst bei Ihnen entschuldigen, über meine Taktlose Frage. Ich schäme
mich dafür.
Ich finde es gut, dass Ihre Tochter Marie von uns weiß.
Jetzt, wo ich vierzig bin, finde ich es ein wenig schade, keine Kinder zu haben. In
der Zeit, wo meine glanzvolle Karriere kam, rannte die Zeit weg und letztendlich auch
mein Mann. Er wollte immer Kinder. Über seinen Anwalt habe ich erfahren müssen, ich wäre
eine Egoistin, weil mir mein berufliches Fortkommen wichtiger sei, als alles andere. Das
wäre keine Basis füreinander. Ein Fehler, den ich heute ein wenig bereue.
Aber nun zu den schönen Dingen des Lebens - dem backen. Ja, ich liebe Süßspeisen aller
Art. Ob Torten, Kuchen oder Desserts. An Weihnachten backten meine Mutter und ich immer
um die Wette. Das war ein Heidenspaß. Sie gab mir immer etwas Vorsprung beim Plätzchen
ausstechen, damit ich immer gewann. Aber auch an Geburtstagen, Feiertagen und
Wochenenden wurde bei uns reichlich gebacken. Besonders gerne mag ich den Duft von
Bratapfelkuchen. Wenn der Duft von Marzipan in der Luft lag, konnte ich nicht schnell
genug in die Küche rennen. Meine Mutter hat mir sehr viel beigebracht, aber vor allem,
auf eigenen Füßen zu stehen. Dafür bin ich ihr sehr dankbar. Welchen Duft mögen Sie
besonders gerne?
Eine Frage jedoch liegt mir zum Schluss noch am Herzen. Ich möchte Sie bitten, ehrlich
zu antworten, was Sie darüber denken und das Gesetz kurz beiseitelassen: Wenn bei einer
sterbenden Person keine Lebensfreude mehr da ist, wenn dessen Tod nur noch
hinausgezögert wird und die Schmerzen unerträglich sind - Darf man jemanden beim Sterben
helfen, wenn die Chancen auf Heilung schlecht steht?
Wie denken Sie darüber?
Es Grüßt Sie aus dem kalten Deutschland
Aveline
PS: Eine Donauwelle kann ich übrigens auch backen (aber lieber ohne Sahne)
Ein paar Tage später herrschte im Büro ein großes Durcheinander. Gleich zwei Kollegen
hatten sich krankgemeldet, die Kaffeemaschine war kaputt und die Reinigungskraft war
ohne abzusagen nicht erschienen.
In Gedanken stand ich in der Miniküche und wartete, bis mein von Hand aufgebrühter
Kaffee durchgelaufen war.
„Aveline, träumst du?“
„Nein, ich denke nur über etwas nach“, sagte ich hastig, als ich mich zu meiner
Chefin umdrehte.
„Eile ist geboten!“, sagte sie und deutete auf meine Akte. „Wie Weit bist du mit dem
Fall Normen Vogel? Konntest du mit deinem Freund schon darüber sprechen?“
„Nein, aber ich versuche ihn heute Abend direkt von seiner Arbeit abzufangen. Sag
mal, kennst du einen Morgen Silver?“
„Oh ja”, schwärmte meine Chefin sofort. “Das ist einer der berühmtesten
Kriminalautoren aller Zeiten. Ich habe viele seiner Werke gelesen. Unter anderem wie
„Totschlag auf Raten, Pakt der Allianz oder Probelektion“, aber der Klassiker unter
seinen Romanen ist “Der Tod auf dem Lokus“. Könnte ich dir sogar ausleihen.“
„Vielleicht aber weißt du, wo dieser Morgen Silver lebt?“
„Nicht genau, aber irgendwo hatte ich mal gelesen, dass er sehr zurückgezogen auf
einer Insel leben soll. Island oder Irland. Man weiß sehr wenig von ihm. Recht seltsam
aber er hat einzigartige Romane geschrieben.“
„Irland?“, flüsterte ich plötzlich. Mein Löffel glitt wie in Zeitlupe aus meiner
Hand.
„Liebes, was ist mit dir los? Du bist ja plötzlich ganz blass im Gesicht. Geht es
dir nicht gut?“, fragte meine Chefin besorgt.
„Doch“, stotterte ich. „Wenn du nichts dagegen hast, würde ich jetzt gerne von
zuhause weiterarbeiten.“
„Mach das. Ich rufe dich heute Abend nochmal an“, erwiderte meine Chefin sorgenvoll
und nahm dankend meine Tasse Kaffee entgegen.
Zuhause recherchierte ich nochmal genauer nach Morgen Silver. Tatsächlich war er ein
berühmter Schriftsteller. Seine Bücher rangierten unter den Top Ten in den
Bestsellerlisten und sogar den Nobelpreis für Literatur bekam er verliehen, den er aber
nicht entgegengenommen hatte. Weder ein Foto, noch eine Biografie gab es von dem
Schriftsteller Morgen Silver, was wirklich sehr seltsam schien.
„Mist“, rief ich, als die Kuckucksuhr laut im Wohnzimmer schellte. Schnell zog ich
meinen Mantel über und rauschte mit der Akte Normen Vogel aus der Tür hinaus.
Es war inzwischen dunkel geworden, als ich in ein Industriegebiet einbog und
schließlich an einem großen Gebäude anhielt. Ich drehte den Zündschlüssel um und stieg
aus. Vereinzelt brannte in dem Gebäude noch Licht. Fröstelnd zog ich meinen Kragen vom
Mantel höher und wippte mit den Füßen hin und her. Nach zehn Minuten öffnete sich die
Eingangstür eines Pharmaunternehmens und ein Mann schritt langsam auf mich zu.
„Aveline, was machst du denn hier?“, rief der Mann schon von Weitem.
„Auf dich warten, Normen. Wir müssen dringend reden!“
„Jetzt?“
„Ja! Ich verstehe dich nicht. Warum gehst du verdammt nochmal nicht an dein
Telefon?“
„Du klingst sauer”, sagte Normen, als er vor mir stand.
„Das bin ich auch! Ich verstehe nicht, warum du dir nicht helfen lassen willst?“
„Aveline, der Fall ist doch längst eindeutig.“
„Für mich nicht, Normen. Ich kenne dich seit fast vierzig Jahren und ich würde für
dich meine Hand ins Feuer legen, das du es nicht warst!“
„Und wenn doch?“
„Was, wenn doch? Jetzt höre bitte mit diesem Blödsinn auf. Dir wird aktive
Sterbehilfe vorgeworfen“, schrie ich Normen nun verzweifelt an.
Er sah mich plötzlich mit Tränen in den Augen an.
Ich umarmte ihn weinend. Es dauerte eine Weile, bis er sich von mir löste und sagte:
„Gut, ich erzähle dir alles. Aber nicht hier. Fahren wir zu mir und dann zeige ich dir
etwas.”
Am selben Abend, als ich wieder zuhause war, nahm ich zum ersten Mal die verstaubte
und ungeöffnete
Flasche Whisky aus dem Schrank, schenkte mir ein wenig in ein Stielglas ein und trank es
in einem Zug leer. Mein Hals brannte wie Feuer, aber nach dem zweiten Glas fühlte ich
mich schon viel besser.
Was Normen mir offenbarte, war unfassbar. Der Fall war zwar für Gerichtsmediziner,
Ärzte, Kriminalpolizei der Verstorbenen eindeutig, aber nicht für mich. Sie hatten alle
bisher einen entscheidenden Punkt übersehen, dem ich dringend nachgehen musste.
Am nächsten Tag erreichte mich überraschend schnell wieder Post aus Irland:
Liebe Aveline,
Über Ihren letzten Brief habe ich mich sehr gefreut. Sie haben eine erfrischende Art,
Briefe zu schreiben. Aber zuallererst: Sie müssen sich nicht entschuldigen und auch
nicht schämen. Wirklich!
Ich bin ein offener Mensch, der gerne mit Leuten redet und auch zuhört.
Sie haben mir eine sehr schwierige Frage gestellt, die leider auch im 21.
Jahrhundert noch ein Tabuthema ist. Deshalb möchte ich sie aus meiner Sicht beantworten.
Als meine Frau Ann vor ein paar Jahren im Sterben lag, hatte ich oft den Gedanken,
ihr das Ableben zu erleichtern. Sie hatte Krebs im Endstadium. Ihre Heilungschancen
lagen bei null. Es ist ganz furchtbar, einen geliebten Menschen leiden sehen zu müssen.
Ehrlich gesagt, ich hätte alles dafür gegeben, ihr die Qualen der grausamen Krankheit zu
nehmen. Für ihre Schmerzen gibt es keinen Ausdruck. Die unzähligen Medikamente und das
Morphium linderten zwar etwas ihr Leiden, aber es reichte nicht aus. Kein Mensch auf
dieser Welt hat es verdient, seine letzten Stunden unter qualvollen Schmerzen sterben zu
müssen! Ich kann mich noch genau an ihren leeren Blick erinnern, kurz bevor sie starb.
Gott hab sie selig. Meine persönliche Antwort: Ja, man sollte im Einzelnen, denjenigen
helfen dürfen, der im Sterben liegt, und es der feste Wille ist! Was ich Ihnen ans Herz
legen möchte, ist, gehen Sie in diesem Fall zuerst nach ihrem Gefühl. Sie schaffen das.
Es freute mich zu lesen, dass Sie eine glückliche Kindheit verlebt haben.
Gewiss, Düfte prägen unser Leben. Bei mir ist es aber nicht der herrliche Marzipanduft,
sondern der von Spiegeleiern. Jawohl, Sie haben richtig gelesen. Gebratene Eier mit
Kräutersalz ist meine absolute Leibspeise.
Als Kind, wenn ich morgens in meine Klamotten geschlüpft war und die alte, knarrende
Holztreppe in unserm Haus hinunterlief, konnte ich nicht schnell genug am Küchentisch
sitzen. Jeden Morgen gab es ein Spiegelei und das Eigelb musste noch flüssig sein. Ich
kann mich noch ganz genau daran erinnern, als meine Mutter einmal den Versuch gewagt hat
und Speck mit zugab. Mein geliebter Geruch war dahin und ich schmollte den ganzen Tag
deswegen. Heute brutzelt meine Mutter nicht mehr für mich, sondern meine Wenigkeit,
nämlich für meine Tochter und ihre Kinder.
Hach Aveline, erlauben sie mir, Ihnen noch kurz zu erzählen, was mir heute
Traumhaftes passiert ist.
Ich ging wie gewöhnlich in eine Bäckerei und wollte Brot kaufen. Dann sah ich auf
dem Tresen einen Kuchen stehen und traute meinen Augen nicht. Eine Donauwelle, ohne
Sahne! Die Verkäuferin erzählte, dass der Bäckermeister ein altes Rezept aus Deutschland
ausprobiert hätte!
Was denken Sie, was ich gemacht habe? - Ja ich habe den ganzen Kuchen gekauft. Und
es hat traumhaft geschmeckt. Die ausgewogene und gesunde Ernährung habe ich heute mal
über Bord geworfen, und über den Tag verteilt, mich nur von Donauwelle ernährt. Da ich
mein Gewicht gut im Griff habe (dank Hurling) konnte ich ohne Reue das köstliche
Backwerk genießen. Man lebt schließlich nur einmal. Was genießen Sie ohne Reue?
Herzliche Grüße aus dem nassen Irland
Nikolaj
Wie recht Nikolaj hatte. Man lebte nur einmal. Wann hatte ich zuletzt ohne Reue etwas
genossen oder geschweige denn mir etwas gegönnt. Ich dachte lange darüber nach und
stellte fest, dass ich eigentlich nur für meine Arbeit lebte. Meine Wohnung war nur mit
dem Nötigsten möbliert, mein Auto war schon in die Jahre gekommen und mein
Kleiderschrank war überwiegend nur mit eleganten Business Anzügen ausgestattet. Ich
hatte plötzlich den Drang, etwas in meinem Leben ändern zu wollen. Jedoch musste ich
zuerst meiner beruflichen Pflicht nachgehen und notierte mir eine Adresse und
Telefonnummer auf einen Zettel.
Am nächsten Tag fuhr ich zu dieser Wohnungsadresse und klingelte. Eine junge Frau
öffnete die Tür und schien über meinen Besuch nicht sonderlich überrascht zu sein. Unser
Gespräch dauerte über eine Stunde, bis die junge Frau alle meine Fragen schleppend
beantwortet hatte. Ich war schockiert und erschüttert über ihre Aussage, und es gab
tatsächlich eine Wendung im Fall Normen Vogel.
Am Abend antwortete ich Nikolaj bei einer Flasche fruchtigen Rotwein:
Hallo Nikolaj,
Zuerst muss ich fragen, ob Sie die Donauwelle vertragen haben? Meine Güte, das waren
bestimmt über 1000 Kalorien, eine Zuckerbombe! Konnten Sie überhaupt schlafen? Und was
genau ist Hurling? Hat das was mit der Schauspielerin Liz Hurley zu tun? Ist sie ihre
Fitnesstrainerin?
Danke, dass Sie mir auf die schwierige Frage geantwortet haben. Lange habe ich über den
Tod und über die aktive Sterbehilfe nachgedacht. Im Nachhinein bin ich sehr dankbar,
darüber, dass ich im mir keine Gedanken machen musste, was richtig oder falsch gewesen
wäre, wenn damals meine Mutter mit dem Tod gekämpft hätte. Mit Anfang vierzig verstarb
sie an plötzlichen Herztod. Damals steckte ich mitten im Abitur, als mich die
schreckliche Nachricht erreichte.
Mein Vater starb bei einem Autounfall, da war ich erst drei Jahre alt. Geschwister
oder Verwandte habe ich nicht. Ich war ab diesem Zeitpunkt völlig alleine auf mich
gestellt. In manchen Situationen vermisse ich meine Mutter sehr. Auch heute noch.
Nun erzählen Sie mir aber endlich, was es mit dem Morgen Silver auf sich hat. Leider
muss ich gestehen, dass ich weder den Schriftsteller noch seine Romane kenne. Sind Sie
ein Fan von seinen Werken? Kenne Sie ihn sogar persönlich?
Ach, heute habe ich so viele Fragen. Ich hoffe, es stört Sie nicht.
Herzliche Grüße
Aveline
Am nächsten Tag brummte mein Schädel immens, denn Alkohol war ich nicht mehr gewohnt.
Meine Chefin stellte mir ein Glas mit zwei Schmerztabletten auf den Tisch und schüttelte
dabei ein wenig mit dem Kopf.
„Wie geht es mit dem Mandanten Normen Vogel voran?“, fragte sie schließlich.
Ich leerte zunächst das Glas in einem Zuge und antwortete: „Es gibt Neuigkeiten!“
Meine Chefin hob gespannt die Augenbrauen und schloss die Tür hinter sich.
„Normen Vogel ist unschuldig!“, erklärte ich.
„Aha. Und woher willst du das wissen?“
„Ich habe seiner Schwester einen Besuch abgestattet.“
„Was hat denn seine Schwester damit zu tun?“
„Als ich vor ein paar Tagen bei Normen zuhause war, zeigte er mir sein leeres
Bücherregal. Alle seine Medizinbücher waren plötzlich verschwunden. Er erzählte, als
seine Mutter im Sterben lag, war seine Schwester bei ihm zu Besuch gewesen. Er hatte
erst später bemerkt, dass die Bücher fehlten. Kurz darauf starb die Mutter der beiden.
Das Problem ist nun, die Schwester hat gegenüber mir ein Geständnis abgeliefert, aber
sie partout nicht vor Gericht aussagen. Sie belastet Normen damit, und die weitere
Erschwernis in dem Fall ist, das Normen seine Schwester schützen will. Es ist zum
Verzweifeln. Was soll ich jetzt tun?“
„Hat sie erzählt, warum sie das getan hat?“
Ich seufzte und erzählte weiter: „Sie und Normen konnten ihre Mutter nicht mehr
leiden sehen. Jeder Krampf, jeder Schrei der Mutter, löste in ihnen selbst einen
unsagbaren Schmerz aus. Sie erzählte, ihre Mutter hat sie um etwas gebeten und ihr
Bruder, also Normen, sollte es nicht erfahren.“
„Was gebeten?“
„Sie endlich zu erlösen, aber wie sie es letztendlich genau gemacht hat, wollte sie
nicht sagen.”
„Tödliche Medizin!“, erwiderte meine Chefin. Dennoch, eine schöne Geschichte aber
der Fall bleibt weiterhin undurchsichtig. Wir haben heute den Gerichtlichen
Obduktionsbericht von der verstorbenen Mutter bekommen. Du solltest ihn lesen!“
Ich las den Bericht und schüttelte fassungslos mit dem Kopf. Meine Chefin sah mich
ernst an und sagte: „Jetzt sollte Normens Schwester genau schildern und erzählen, wie
sie das bewältigt haben kann. Sie wäre überhaupt nicht dazu imstande gewesen, solch ein
Beruhigungsmittel zu spritzen, geschweige denn, es irgendwo herzubekommen oder gar
herzustellen! Und außerdem waren sie und Normen zu dem Zeitpunkt des Todes ihrer Mutter
nicht im Krankenhaus. Ein zusätzliches Beruhigungsmittel und Morphium wurde der
Patientin gespritzt, und das nicht zu knapp! Letztendlich kam es in den frühen
Morgenstunden zum Tod, durch Atemlähmung.“
„Ich verstehe das nicht. Das passt alles nicht zusammen, was Normens Schwester mir
erzählt hat.“
„Hat sie gesagt, mit was sie ihrer Mutter erlöst haben soll?“, fragte meine Chefin.
„Nein, das sagte ich ja schon.”
„Die Frage ist nun, wer hatte der Patientin die Überdosis gespritzt. Ich habe heute
Morgen schon mit der Kriminalpolizei telefoniert. Sie untersuchen gerade intensiv den
Fall. Dem Mandanten Normen Vogel kann also keiner Schuld der aktiven Sterbehilfe nach-
gewiesen werden, es sei denn...“
„Das er die Schmerzmittel verabreicht hat“, sagte ich leise. „Aber bloß wann?“
„Warten wir noch damit bis zum Abschluss der Ermittlungen ab“, sagte meine Chefin
und lächelte mir aufmunternd zu. „Manchmal muss man Dinge einfach geschehen lassen, und
so lassen, wie sie sind.”
Wie recht meine Chefin eigentlich hatte.
Fast drei Woche musste ich warten, bis ich wieder von Nikolaj hörte:
Liebe Aveline,
Ein herzliches Dankeschön für Ihren letzten Brief und ihrer Besorgnis meiner Gesundheit.
Die Überzuckerung habe ich gut überstanden. Sie haben diesmal sehr viele Fragen, aber
ich werde sie alle nacheinander und mit Freude gerne beantworten. Aber zuallererst,
fühlen Sie sich von mir gedrückt. Manchmal dauert Trauer um einen geliebten Menschen
eine Ewigkeit. Ich weiß das sehr genau und fühle mit Ihnen.
Darf ich vorsichtig die Fragen stellen, wann Sie das letzte Mal am Grab ihrer Mutter
waren? Sie haben geschrieben, dass Sie ohne Familie sind. Wer hat Ihnen zur Seite
gestanden, als ihre Mutter verstarb?
Ach Aveline, ich musste kurz auflachen, als Sie die Frage gestellt haben, ob die
Dame Hurley meine Fitnesstrainerin ist. Nun, Sie waren schon auf der richtigen Spur und
ja, es hat mit Sport zu tun.
Dennoch kenne ich Liz Hurley, die britische Schauspielerin nicht persönlich, was ich
sehr bedauere.
Das Spiel Hurling ist eine irische Nationalsportart und wird in den Sommermonaten
gespielt.
Gespielt wird mit einem hockey-ähnlichem Stock (dem Hurley) und einem kleinem
Sliotar (Lederball). Jede Mannschaft besteht aus fünfzehn Spielern und gewöhnlich wird
2x 30 Minuten gespielt. Das reicht auch, denn es ist ein sehr anstrengender Sport.
Die Mannschaften versuchen, den Ball ins gegnerische Tor zu befördern, was nicht
immer ungefährlich ist.
Wir tragen zur Vorsicht Helme und Mundschutz, denn ich wollte meine noch festen Zähne
etwas länger behalten. Gestartet wird das Spiel durch den Sliotar (kleiner Ball) – dem
Einwurf vom Schiedsrichter an der Mittellinie.
Wenn der Ball sich auf dem Boden befindet, muss er mit dem Hurley aufgehoben,
geschlagen oder mit dem Fuß gespielt werden. Man darf auch den Ball aus der Luft fangen,
allerdings, dann ist es nur erlaubt, damit vier Schritte zu gehen oder vier Sekunden
diesen in der Hand zu behalten. Der Ball muss dann mit der flachen Hand geschlagen und
gepasst werden. Den Ball einfach vom Boden aufzuheben ist jedoch verboten. Am besten ist
es, den Ball vom Boden mit dem Hurley zu heben und mit einem Schlag zu spielen. Frauen
spielen bei uns übrigens auch Hurling, dann wird es Camogie genannt. Sie spielen auf
einem kleineren Spielfeld und haben nur zwölf Spieler pro Mannschaft. Die Regeln sind
dieselben wie beim uns Männern (außer, die Frauen tragen Röcke).
Ich liebe Hurling. Es wird auch das schnellste und älteste Feldspiel der Welt
genannt. Haben Sie eine bestimmte Sportart, die Ihnen Spaß macht?
PS. In gewisser Weise kenne ich Morgen Silver. Aber mehr möchte ich noch nicht
verraten. Vertrauen Sie mir.
Was machen Sie an Weihnachten?
Herzliche Grüße
Nikolaj
Nachdem ich den Brief gelesen hatte, musste ich über mich selber lachen und ich
beschloss, beim nächsten Brief an Nikolaj keinen Wein mehr dabei zu trinken. Ich hatte
im Weinrausch das Hurling mit der Schauspielerin Liz Hurley verwechselt. Das war ganz
schön peinlich. Es tat mir so gut, mit Nikolaj über vieles und unbeschwert reden zu
können. Ich offenbarte regelrecht einen Seelenstriptease, aber das war mir letztendlich
auch egal und begann zu schreiben:
Dia dhuit Nikolaj,
Conas ata tú?
Ich habe mich ein klein Wenig in der irischen Sprache versucht. Bitte korrigieren
Sie mich, wenn ich in der Schreibweise falsch lag.
Ich möchte Ihnen sehr gerne etwas von meiner Mutter erzählen. Sie liebte die Natur,
besonders die Wälder. Als Kind war ich mit meiner Mutter oft im Wald. Wir lauschten das
Klopfen der Spechte, beobachteten den Vögeln, sammelten Steinpilze, Pfifferlinge und
Beeren. Besonders liebten wir aber den Duft von frischem Laub im Herbst und die
moosbewachsenen Wanderwege. Meine Mutter hat ihre letzte Ruhestätte in einem Friedwald
gefunden, und immer, wenn ich sie besuchen gehe, bleibe ich inmitten des Waldes stehen,
schließe meine Augen und atme den Waldgeruch ein. Sie werden jetzt erstaunt sein, aber
wir hatten eine sehr tiefe, innige Mutter-Tochter Beziehung. Sie war, ist und bleibt
immer mein Vorbild.
In der schweren Zeit, als meine Mutter krank war und dann verstarb, war meine Chefin
an meiner Seite und kümmerte sich liebevoll um mich. Sie war eine sehr enge Freundin
meiner Mutter. Ich habe in dieser Hinsicht sehr viel Glück gehabt. Sie ist die beste
(auch strengste) Chefin, die man sich wünschen kann und sie besitzt ein grandioses
Mutterherz. Kürzlich hat sie mich gefragt, ob ich ihre Kanzlei in ein paar Jahren
weiterführen möchte. Ich habe ihr noch keine Antwort darauf gegeben.
An Weihnachten werde ich eine Kleiderschrank-Inventur vornehmen. Ich werde knallhart
vorgehen und ordentlich aussortieren. Und wie ich mich kenne, werde ich mich neu
einkleiden müssen. Und vielleicht etwas arbeiten. Was sollte ich sonst machen? Haben Sie
einen Vorschlag für mich? Ich bin gespannt.
Ach Nikolaj, Sie schreiben immer mit einer Leichtigkeit, so vernunftbegabt. Sie sind ein
wundervoller Erzähler mit viel Gefühl.
Es grüßt Sie
Aveline
Ich ertappte mich dabei, wie ich über Nikolaj nachdachte und malte mir in Gedanken aus,
wie er wohl aussehen mochte.
Ich stellte mir vor, dass er ein mittelgroßer, schlanker Mann war, mit kurzen
braunen Haaren, grünen ausdrucksstarken Augen, einem vollen Mund, einer geraden Nase,
vollen Wangen und einem markanten Kinn. Vielleicht hatte er schmale gepflegte Hände,
eine helle Haut mit vielen Sommersprossen. Sein Vorname klang wohlklingend und männlich,
denn er stand für Sportlichkeit und Sachlichkeit.
Ich war plötzlich so neugierig darauf, Nikolaj vor mir zu sehen. Und dann kam mir
eine Idee. Ich zeichnete bezüglich seiner Herkunft, Hobby und seinem Namen ein Profil
auf Papier und wollte diese Nikolaj beim nächsten Mal mitschicken.
Vier Wochen später und Weihnachten rückte immer näher. In der Zeit kam kein Brief von
Nikolaj. Ich machte mir Sorgen, ob ihm etwas passiert sei oder mein Brief ihn nicht
erreicht hatte. Dennoch, in der Zeit geschah eine positive Wendung in Fall meines
Mandanten Normen Vogel.
Ich konnte dem Gericht einen bedeutungsvollen Beweis vorlegen, dass mein Mandant
unschuldig war. Immer, wenn Normen seine todkranke Mutter im Krankenhaus besucht hatte,
fotografierte er heimlich mit seinem Handy ihre Krankenakte. Die Dosis Morphin wurde
kontinuierlich erhöht, doch dem Krankenhaus war ein gravierender Fehler unterlaufen. Am
Morgen vor dem Tod der Mutter wurde vermutlich vom ersten Facharzt schlichtweg
vergessen, den Zeitpunkt und die Dosis vom Betäubungsmittel in die Krankenakte der
Mutter einzutragen. Ein Fehler, der niemals unterlaufen darf. Der zweite Facharzt vergab
nur wenig später eine weitere intravenöse Gabe Morphin, die letztendlich kurz darauf zur
Atemlähmung und schließlich zum Tod der Patienten führte. Jedoch bestritt der erste
Facharzt standhaft den vergessenen Eintrag und waren der Ansicht, dass die Krankenakte
manipuliert wurde und die Dosis Morphin nur einmal von ihm persönlich gespritzt wurde.
Es wurde ein strafrechtliches Verfahren gegen das Krankenhaus eingeleitet und mein
Mandant wurde von der Anklage wegen aktiver Sterbehilfe freigesprochen. Normen und seine
Schwester lächelten sich im Gericht erleichtert an.
Ein paar Tage vor Weihnachten erreichten mich endlich der ersehende Brief von Nikolaj.
Doch diesmal war er in zwei dicke Briefumschläge verpackt und als ihn öffnete, stieg ein
süßlich-hauchzarter Geruch in meine Nase.
Liebe Aveline,
An bhfuil tú go maith? (Geht es dir gut?)
Ich bin immer wieder beeindruckt von Ihnen. Sie beherrschen die Irische Sprache,
fantastisch.
Mein überfälliger Brief hat jedoch einen Grund. Meine Kreativität befand sich
unglücklicherweise seit über einem Jahr im Leerlauf. Ich war nicht mehr in der Lage,
meine Ideen umzusetzen. Mehrfach musste ich meine Arbeit abbrechen, fing Entwürfe erneut
an, brach sie niedergeschlagen und kraftlos wieder ab. Mein Kopf war wie leergefegt. Es
war einen grausamen Quall, es deprimierte mich enorm. Dann hatte ich diesen
Gedankenblitz und lernte Sie kennen.
Was ich damit sagen möchte, ist, Aveline, Sie haben mich in meiner schöpferischen
Pause inspiriert und
auf neue Ideen gebracht.
Sie haben mit ihrer bezaubernden Art, ihrer Sympathie, mich aus diesem furchtbaren,
dunklen Loche gezogen.
Wenn ich das so sagen darf: Sie waren für mich das Licht, dass am Ende eines Tunnels
immer näherkam, mit jedem Brief. Sie sind für mich eine unverzichtbare Muse! Das
vertrauen zweier Menschen ist unbezahlbar!
Es fühlt sich immer wieder so an, als wären Sie ganz nah, aber dennoch unerreichbar
weit entfernt.
Endlich ist die Lust, der Drang und das Kribbeln in meinen Fingern wieder da.
Nun sitze ich gerade an meinem alten Mahagoni Schreibtisch mit einer köstlichen
Tasse Barrys Tee und lasse den Blick durch das Fenster über die irische See schweifen.
Ich habe in den vergangenen Wochen sehr viel Arbeit nachgeholt, darum konnte ich Ihnen
nicht sofort antworten. Ich hoffe innig, Sie verzeihen mir diese Unhöflichkeit.
Ich habe eine Unentschlossenheit bemerkt, als Sie von der Übernahme der Kanzlei
ihrer Chefin geschrieben haben. Gerade dann, wenn Sie Unsicherheit verspüren, warum
legen Sie sich nicht einfach eine Liste mit Pro und Contra an? Wiegen Sie ab und gehen
Sie mit Sorgfalt, Verstand aber vor allem mit Ihrem Herzen vor.
Haben Sie Träume? Wenn ja, wann wollen Sie diese verwirklichen? Vielleicht möchten
Sie längst
etwas Neues ausprobieren und spielen schon länger mit den Gedanken, es umzusetzen? Nur
Mut, Aveline.
Lassen Sie über die Feiertage ihre Arbeit in ihrer Aktentasche liegen. Man vergisst
mit der Zeit die schönen Dinge im Leben.
Nimm dir Zeit, um zu träumen;
das ist der Weg zu den Sternen.
(ein irischer Segenswunsch)
Riechen Sie das Weihnachtliche? Feuchtes Moos und frisches Laub war etwas schwierig in
dem Brief zu verschicken, aber ich hoffe, dass ich Ihnen trotzdem eine kleine Freude
bereiten konnte.
Frohe Weihnachten,
Nikolaj
Die Papierecken waren mit einem leichten, dezenten Duft von Marzipan versehen.
Nikolaj war sehr aufmerksam, beruhigend aber auch etwas rätselhaft. Es war
eigentlich zum verrückt werden. Aber gut, ich nahm die Briefe von Nikolaj zur Hand und
studierte sie nochmal durch. Irgendwo in einer Zeile musste doch stehen, was er
beruflich machte. Und dann, urplötzlich, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Das
Kribbeln in der Hand, neue Entwürfe, die kreativen Einfälle. Nikolaj musste ein
Schriftsteller sein und hatte eine Schreibblockade. Morgen Silver musste anscheinend
sein großes Vorbild sein. Aber warum machte Nikolaj so ein großes Geheimnis darum?
Die Weihnachtstage verstrichen langsam und es wurde Neujahr, bis ich endlich wieder
in der Lage dazu war, einen Brief nach Irland zu verfassen:
Hallo Nikolaj,
Ich wünsche Ihnen ein glückliches neues Jahr.
Sie haben bestimmt die Feiertage in den Kreisen ihrer Liebsten harmonisch verlebt.
Ich fand die Idee mit dem Marzipanduft großartig. Ein wundervoller Einfall.
Leider hat mich über die Weihnachtstage eine furchtbare Grippe erwischt. Das hohe
Fieber war so hartnäckig, dass ich sogar Silvester verschlafen habe. Aber nun geht es
mir wieder besser.
Warum erzählten Sie mir nicht davon, dass Sie Schriftsteller sind? Schreibe Sie auch
Krimis wie Morgen Silver oder eher Liebesromane?
In ein paar Tagen ist meine Scheidung vollzogen. Meine Chefin fragte mich, ob ich
dann glücklich sei. Ich antwortete ihr wie aus der Pistole mit einem freudigen „Ja“. Sie
musste lachen und sagte darauf, es hörte sich wie damals an, als ich in der Kirche
gefragt wurde, ob ich diesen Mann als meinen Ehemann annehmen will. Irgendwie paradox.
Finden Sie nicht auch?
Ich habe meine Chefin noch um etwas Bedenkzeit wegen der Übernahme ihrer Kanzlei
gebeten. Sie sagte, ich habe alle Zeit der Welt. Sie wäre mir auch nicht böse, wenn ich
ihr Angebot abschlagen würde. Ich soll meinem Herzen folgen. Jetzt fällt mir die
Entscheidung noch schwerer.
Dennoch, ich bin so neugierig, wo und wie Sie auf Irland leben. Haben Sie einen
Lieblingsort auf der Insel und wie gefällt Ihnen die Zeichnung? So könnte ich Sie mir in
natura vorstellen.
Auf die Frage, ob ich einen Traum habe, ja, die habe ich. Ein Kunstatelier zu
besitzen wäre großartig.
Es grüßt Sie
Aveline
Seine Antwort folgte prompt zwei Wochen später:
Liebe Aveline,
Bliadhna Mhath Ur! Das ist Gälisch und heißt gutes Neues Jahr. Es tut mir sehr leid,
dass es Ihnen über die Feiertage schlecht erging. Ich habe oft an Sie gedacht, was Sie
wohl gerade machen würden. Die Feiertage waren wie immer wundervoll. Wir haben viel
musiziert und in Maßen gefeiert. Das ist das schöne hier in Irland. Keine Hektik, kein
Stress, kein Lärm. Die unendliche Stille und Ruhe finde ich in einer nahe gelegenen
Klosterruine namens Tintern Abbey. Das ist mein Lieblingsort, an dem ich mich oft
zurückziehe.
Meine Tochter Marie wohnt mit ihrer Familie nicht weit entfernt von mir. Das ist
wunderbar, denn meine kleinen Enkeltöchter kommen mich fast täglich besuchen. Neulich
hat mich die jüngste gefragt, warum ich in letzter Zeit mit einem verträumten Lächeln im
Gesicht aus dem Fenster schaue. Ich erzählte ihr, dass es wenige Menschen auf der Welt
gibt, die etwas ganz Besonderes sind und es schön ist, diese zu kennen. Sie fragte mich
dann, ob ich einen dieser Menschen kenne. Ich bejahte und fühlte mich glücklich.
Ihren Traum, ein Kunstatelier zu besitzen, finde ich ohne jeden Zweifel großartig.
Ich musste mich erstmal setzen, als ich ihr Portrait in den Händen hielt.
Ausgezeichnet! Grandios! Diese feinen Linien, sehr ausdrucksstark. Sie haben ein
göttliches Talent, um das ich Sie wirklich beneide. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf,
geben Sie diesen Traum nicht auf!
Aber nun muss ich Ihnen doch etwas gestehen, denn Sie haben mich ertappt.
Ja, ich bin Schriftsteller. Zum ersten Mal habe ich mich in ein neues Genre gewagt.
Der Roman ist einzigartig und ich bin von mir selbst überrascht.
Wenn Sie nochmal ganz von vorne anfangen könnten, was würden Sie wieder genauso machen
anders machen, und was würden Sie anderes machen?
Herzliche Grüße
Nikolaj
Nachdenklich legte ich den Brief zur Seite und dachte eine ganze Weile über mein
bisheriges Leben nach. Wahr ich denn wirklich zufrieden? Wollte ich etwas nachholen, was
ich bisher verpasst habe?
Hatte ich wirklich nur einen einzigen Traum? Ich musste zugeben, ich war von der
Frage durcheinander.
Am nächsten Tag herrschte in der Kanzlei eine ungewohnte Stille. Ich schreckte hoch, als
meine Chefin mit zwei Tassen Kaffee in mein Büro reinkam.
„Sag mal, gibt es einen neuen Mann in deinem Leben?“, fragte sie und hob neugierig
die Augenbrauen.
„Nicht direkt”, antwortete ich knapp.
„Was heißt nicht direkt?“, bohrte meine Chefin interessiert weiter.
„Es gibt tatsächlich jemanden, aber nichts Ernstes. Es ist anders.“
„Wie anders?“, „Du hast dich in letzter Zeit etwas verändert und...”
„Bist du mit deinem Leben zufrieden?“, unterbrach ich sie.
„Manchmal ja, manchmal nein. Es ist immer situationsabhängig, aber warum fragst du
das oder muss ich mir ernsthafte Sorgen um dich machen?“
„Nein. Das war nur eine Frage.“
„Aha. Na gut, dann lass ich dich jetzt weiterarbeiten“, sagte sie dann mit einem
wissenden Lächeln.
Am Abend viel es mir außerordentlich schwer, ein paar vernünftige Zeilen auf das Papier
zu bekommen. Dennoch hatte ich es nach mehreren Anläufen geschafft.
Hallo Nikolaj,
Sie haben mir eine sehr nachdenkliche Frage zum Schluss in dem letzten Brief gestellt.
Ich würde denselben Weg gehen, aber mit ein paar kleinen Änderungen: eine Familie
gründet, öfters einen Blumenstrauß pflücken, ein Atelier eröffnen, mehr Lachen, eine
Hängematte und ein paar Schafe im Garten, mit wenig Gepäck reisen, mal Schwäche zeigen,
frei und einfach zufriedener sein.
Doch ganz schön viel, was ich verändern würde.
Aber, warum sollte oder könnte man nicht jetzt, genau in diesem Moment, sein Leben
in eine neue Richtung lenken? Leben ändern heißt doch, neue Prioritäten setzen und ich
finde, das tun wir zu wenig. Besonders ich. Sie haben mich zu etwas ermutigt, etwas zu
tun. Doch das braucht Zeit, Inspiration und Ruhe.
Lassen Sie uns eine Schreibpause machen. Nur für ein paar Wochen. Sind Sie damit
einverstanden?
Es grüßt Sie
Aveline
Eine Woche später kam ein kurzer Brief von Nikolaj, indem er mir mitteilte, dass er mit
meinem Vorschlag einverstanden sei. Er war sehr gespannt auf das, was ich mir
vorgenommen hatte. Ich ebenfalls.
Ich hatte den Wunsch, in der Kanzlei weniger zu arbeiten. Meine Chefin war damit
einverstanden, aber nur unter der Bedingung, dass ich ihr von meinem mysteriösen
Verehrer, wie sie ihn nannte, erzähle.
Gespannt hörte sie mir zu, als ich dann endlich die Geschichte von Nikolaj und mir,
ihr anvertraute.
Es war mittlerweile Sommer geworden. Ich hatte eine Handvoll Portraits gezeichnet und
fing folglich an, Landschaften von Irland in leuchtenden Ölfarben zu malen. Ich war
wieder in meinem Element. Doch ich hatte auch Sehnsucht nach ihm, nach Nikolaj.
Dann kam der Tag, der mein Leben völlig veränderte.
„Da bist du ja endlich, Aveline. Morgen Silver hat einen neuen Roman geschrieben! ”,
rief meine Chefin aufgeregt, als ich die Kanzlei betrat.
„Super“, erwiderte ich und stellte meine Aktentasche auf den Tisch ab. „Geht es
darin wieder um Mord auf dem Klo?“
„Nein. Diesmal ist es anders. Es geht es um eine Frau, die er noch nie in seinem
Leben gesehen hat. Ein brillantes Werk!“
„Über was geht es in dem Buch?“, seufzte ich desinteressiert. Meine Chefin trat
langsam auf mich zu und sagte: Über das Leben. Über Träume. Über dich!“ Ihre Stimme
klang dabei sehr sentimental.
„Über mich?“ Mir wurde plötzlich schwindelig.
„Ja, über dich! Ich konnte es selbst kaum glauben, aber als ich das Buch zu Ende
gelesen hatte, musste ich erstmal einen Schnaps trinken. Ich hatte am ganzen Körper
Gänsehaut. Sowas unglaubliches passiert nur einmal im Leben. Hättest du mir von diesem
Nikolaj und dem Briefwechsel nichts erzählt, wäre ich nie darauf gekommen, dass es sich
um eine wahre Geschichte handelt. Es passt einfach alles zusammen! Aveline, sowas nennt
man Schicksal.“
Sie legte mir ein Buch, verhüllt in einem roten Geschenkpapier in die Hände und
sagte nur: „Du gehst jetzt sofort wieder nach Hause und liest dieses Buch. Die Kanzlei
kann warten, aber das Buch nicht.“
Mein Herz klopfte, als ich zuhause vorsichtig das Buch aus dem Papier auspackte und den
Namen Morgen Silver las.
„Das konnte doch nicht wahr sein“, flüstere ich mit tränenerstickter Stimme.
Das Portrait, dass ich gezeichnet und Nikolaj im letzten Jahr mitgeschickt hatte,
war auf dem Buchcover in schwarz-weiß abgebildet und trug nur den Titel “Aveline”!
Auf der Rückseite des Buches waren die Umrisse einer Frau mit langen Haaren, die auf
einem Felsen hockte.
Morgen Silver war Nikolaj Nadler, der Bestseller Autor von Krimis und Thriller in
den letzten Jahren.
Ich verschlang das Buch innerhalb von zwei Tagen, und begriff allmählich, dass ich
mein Schicksal die ganze Zeit mit der Feder geführt habe. Ich weinte, war gerührt und
gefesselt zugleich.
Auf der letzten Seite des Buches stand in unverwechselbarer Handschrift geschrieben:
Aveline, lassen Sie uns gemeinsam, unsere Geschichte zuende führen. Sie werden mich
an dem Ort finden, der von unendlicher Stille und Ruhe umgeben ist. Ich werde dort auf
Sie warten. Ihr Nikolaj.
Ich klappte das Buch zu, zögerte keine Sekunde und
packte mit einem Lächeln im Gesicht eine kleine Reisetasche mit dem Notwendigsten...
Eva & Antoine
Frankreich
Kennen Sie das Gefühl, vor Ihnen scheint alles ringsherum verschlossen zu sein? Eine
dumpfe, leere Welt, in der man in einer Art Vakuum steht und gefangen ist? Sie rufen,
schreien, toben aber keiner hört Sie? Wenn die Wirklichkeit gerade in diesem Augenblick
anders verläuft, als das, was Sie gerade sehen? Kennen Sie so eine Welt?
Alles begann an einem warmen Sommermorgen.
Ich lag schon vor Tagesbeginn auf meiner Liege im Garten und betrachtete aufmerksam den
Sonnenaufgang.
Direkt neben unserem Haus befand sich eine Ganztagsschule. Zwischen den Hecken, die
rundherum um den Garten gepflanzt waren, befand sich eine kleine Lücke. Ich konnte durch
sie erkennen, wie sich der Schulhof langsam füllte. Das Kinderlachen zauberte mir ein
Lächeln ins Gesicht, bis mir mein Vater einen Stapel Briefe auf den Schoss legte. Jedoch
fiel ein Brief unbemerkt zu Boden. Er schmunzelte und sah mich gespannt an.
„Heute sind es ungewöhnlich viele“, sagte er sanft und setzte sich neben mich. Doch ich
nickte nur und sah dem Treiben auf dem Pausenhof weiter zu, bis es zur ersten
Schulstunde läutete.
„Ich muss jetzt zur Arbeit, Eva. Du weißt ja, wie du mich erreichen kannst, wenn
irgendwas ist.“
Ich nickte abermals und schloss für einen kurzen Moment die Augen.
Mein Vater stand seufzend wieder auf und gab mir noch einen Kuss auf die Stirn. Dann
verschwand er im Haus. Ich war wieder alleine und las zuerst die Absender der Briefe.
Nach nur einer halben Stunde hatte ich fast alle Briefe durchgelesen und warf sie
resigniert zu Boden.
Ich freute mich zwar über jeden einzelnen Brief, aber irgendwie gefielen mir diese
aufdringlichen und schwerfälligen Schreibweisen der mir unbekannten Menschen nicht.
„Wie unmanierlich!“, flüsterte ich, als ich den letzten von acht Briefen gelesen hatte.
Ich stand von der Liege auf und streckte und reckte mich. Dann hob ich die auf dem Boden
liegende Zuschriften wieder auf und entdeckte zu meiner Überraschung noch einen
ungeöffneten Brief, der zwischen dem Liegestuhl klemmte.
Ich setzte mich wieder, öffnete den Umschlag und vernahm folgende Zeilen:
Bonjour Madame Eva, 8.8.2015
Mein Name ist Antoine Duprais (32 Jahre alt) und ich habe Ihre Annonce in der letzten
Ausgabe der Biologie Journal gelesen.
Sie haben in Ihrer Anzeige geschrieben, dass Sie jemanden Gleichgesinntes für die Natur
suchen.
Ich interessiere mich sehr für die Natur und würde mich gerne mit Ihnen darüber
austauschen.
Ich wollte Ihnen zuerst einen Steckbrief zu meiner Person schreiben, aber ich verwarf
dieses Gedankengut wieder.
Sie anzuschreiben, war für mich ein großer Schritt und ich hoffe, dass ich nicht zu
plump herüberkomme. Das wäre auch nicht meine Art.
Haben Sie weitere Interessen, außer der Natur?
Ich gehe zum Beispiel sehr gerne ins Kino, spiele mit Vorliebe Squash und fotografiere
gerne.
Doch am liebsten laufe ich morgens der aufgehenden Sonne entgegen und liebe das Land
Kanada.
Vielleicht habe ich ein Quäntchen Glück, und Sie antworten mir.
Das würde mich sehr freuen.
Adieu Antoine
Diese Zuschrift las sich sehr angenehm, fließend und vor allem, er liebte Kanada.
Endlich jemand, der mit einer gesunden Vernunft und Esprit schrieb. Mein Herz klopfte
ungewöhnlich schnell, als ich auf den Absender des Briefes sah. Antoine wohnte nicht
weit entfernt von mir,
nämlich im Gefängnis Les Baumettes in Marseille.
Doch sollte ich einem Inhaftierten zurückschreiben? Vielleicht einem Mörder,
Vergewaltiger oder Drogenabhängigen?
Aber warum konnte dann ein Schwerverbrecher die Biologie Journal bestellen? Soweit ich
wusste,
war eine bestimmte Fakultät für Biologie der Herausgeber für das monatliche Magazin, für
das sich nur Akademiker interessierten.
Aber was hatte ich schon in meinem trostlosen Dasein zu verlieren? Der Mann saß im
Gefängnis und er konnte mir nichts antun. Außerdem hatte der Brief etwas Unerklärliches,
aber was genau, das konnte ich nicht beschreiben. Noch nicht.
Es ist doch nur eine Brieffreundschaft, mehr nicht, dachte ich entschlossen und eilte zu
meinem Schreibtisch und begann, Antoine zu schreiben:
Bonjour Antoine, 19.8.2015
Vielen Dank für Ihre Zuschrift, aber lassen Sie uns ruhig duzen. Ist dir das recht?
Deine Idee mit dem Steckbrief fand ich eigentlich sehr gut. Schade, dass du keinen
gemacht hast. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.
Hier ist meiner:
Name: Eva Cossery (28)
Wohnort: Aubagne
Lieblingsessen: Pancakes mit Ahornsirup, Kürbiskuchen, Pissaladière und Pastete in
Blätterteigmantel.
Lieblingsort: Quebec, Toronto
Lieblingsfarbe:Bordeauxrot
Liebkiunbgstiere: Fledermaus
Lieblingsfilm: Into the Wild
Lieblingssprichwort: Nur die Wahrheit verletzt
Lieblingsklamotten: bunte Sommerkleider
Lieblingsausrede: mein Wecker war krank
Hobbys: Golf, Naturerlebnis-Ausflüge, Pilze sammeln
Beruf: Studium im Fach Biologie
Traum: das San Francisco Symphony Orchestra live erleben!
Du interessierst dich für die Biologie Journal?
Nach was suchst du?
Ich freue mich auf deine Antworten.
Adieu Eva
Allerdings musste ich den Brief von Antoine vor meinem Vater verstecken, denn er würde
mich für völlig verrückt halten, wenn er erfährt, dass ich mit einem Häftling schreibe.
Das wäre für ihn sicher unvorstellbar.
Am späten Nachmittag kam mein Vater erschöpft von der Arbeit und schüttelte immer wieder
mit dem Kopf.
„Die Studenten machen heutzutage was sie wollen! Heute strebsam, morgen miesepeterig und
lustlos. “
Ich zuckte nur mit den Schultern und sah ihn fragend an. Er legte einen Stapel Mappen
auf den Tisch und schlug eine davon auf.
„Schau her, Eva. Ich hatte meinen Schülern eine einfache Arbeit aufgegeben und das ist
dabei herausgekommen“, sagte er laut.
Ich musste lachen, als ich einige Sätze aus einem Aufsatz gelesen hatte.
„Eines Tages werden die Hühner und Ameisen die Weltherrschaft übernehmen, wenn der
Präsident von Frankreich die Wirtschaft weiter abwürgt“, las ich laut vor.
„Siehst du. Dieser junge Mann zum Beispiel, sollte lieber eine Ausbildung zum
Kabarettisten und Komiker beginnen, anstatt Politikwissenschaft zu studieren. Und dann
dieser Wortschatz. Ich hätte doch lieber den Job als Fernlehrer annehmen sollen. Dann
wäre mir einiges erspart geblieben!“
Ich lachte nun noch mehr und gab dann meinem Vater einen Kuss auf die Wange.
„Du bist der beste Lehrer der Welt“, sagte ich leise.
„Wenn du es sagst“, rief er. „War heute jemand interessantes in der Post dabei?“
Ich schüttelte ratlos mit dem Kopf und wendete mein Blick zur Küchenuhr.
„Naja, beim nächsten Mal ist bestimmt jemand dabei“, rief mein Vater und nahm die Mappen
vom Tisch. „Ich gehe dann mal korrigieren. Warte nicht mit dem Abendessen auf mich, wird
vermutlich länger bei mir dauern.“
Die darauffolgenden Tage vergingen schleppend. Es kamen noch jede Menge Briefe, dennoch
entsorgte ich diese sofort. Ich wollte keinen anderen Brief mehr lesen, sondern dachte
viel eher über diesen Antoine nach, und fragte mich, aus welchem Grund er wohl im
Gefängnis saß.
Dann endlich, kam Post von Antoine:
Bonjour Madame Eva, 4.9.2015
Ich kann meine Freude darüber, dass du mir geantwortet hast, überhaupt nicht in Worte
fassen. Nachdem ich deinen Brief erhalten habe, habe ich mich sofort an den Schreibtisch
gesetzt.
Ganz ehrlich, ich freue mich enorm. Ich hatte sogar eine Gänsehaut, als ich deinen Brief
in den Händen hielt.
Doch erzähle mir lieber, wie es dir geht und ob du den schönen Sommer gerade genießt.
Für mich ist er dieses Jahr etwas zu heiß, aber zum Glück findet man immer ein
schattiges Plätzchen.
Ich mag eher die goldene Jahreszeit, den bunten Herbst mit viel Sonnenschein. Das Wetter
wird dann angenehm kühl, nach und nach fallen die Blätter mit einer Leichtigkeit zu
Boden.
Zwar werden die Tage dann auch kürzer, aber umso mehr genieße ich die langen
Spaziergänge durch das bunte Laub und sammle Kastanien.
Deinen Steckbrief fand ich toll.
Ich habe deshalb die Idee wieder verworfen, weil er sich so kriminell, nach einem Aufruf
anhörte.
Wie du bereits gelesen hast, befinde ich mich zurzeit in einem Gefängnis. Bitte frage
nicht, nach warum.
Mir geht es nur darum, dass wir uns über die Natur austauschen, erzählen oder einfach
nur träumen. Mehr nicht. Das hilft mir, diese quälenden, langen Tage hier auszuhalten.
Hast du eine besondere Richtung bei Musik? Für mich ist Musik sehr wichtig.
Als ich deinen Brief zu Ende gelesen hatte, war ich ganz schön sprachlos. Wir beide
haben wirklich viele Gemeinsamkeiten. Kanada, die Musik, die Natur, nur Fledermäuse mag
ich nicht so gerne.
Vor denen zolle ich besondere Hochachtung. Als ich noch klein war, hatten wir auf
unserem Dachboden heimliche Mitbewohner. Eines Abends ging ich ahnungslos auf den
Speicher und wollte irgendwas von meiner Eisenbahn holen. Nachdem ich die Bodentreppe
rauf war und die Taschenlampe anmachte, kamen wie aus dem Nichts einige Fledermäuse auf
mich zugeflogen.
Vor Schreck bin ich die Treppe runtergefallen und hatte geschrien wie am Spieß.
Die sahen mit ihren kleinen spitzen Zähnchen wirklich furchteinflößend aus. Mich gruselt
es heute noch, wenn ich nur daran denke. Dafür mag ich Hunde, Spinnen und Bären umso
mehr.
Ich wollte noch kurz anmerken, dass du einen sehr schönen Traum hast. Vor etlichen
Jahren habe ich das San Francisco Symphony Orchestra besucht. Es war wundervoll,
faszinierend und ich werde dieses atemberaubende Erlebnis niemals in meinem Leben
vergessen.
Eva, deinen Traum solltest du dir immer wieder vor Augen halten.
So, nun aber ein kurzer Steckbrief von mir:
Name: Antoine Duprais (32)
Wohnort: Nizza
Lieblingsessen: Bisonsteak, Wildreis, Eis
Lieblingsfarbe: blau, türkis, rot
Liebkiunbgstiere: Hund (Husky)
Lieblingsfilm: Swimming-Pool
Lieblingswort: Liberté
Lieblingskleidung: Jeans, T-Shirt, Turnschuhe
Lieblingsausrede: Ich brauchte Geld und habe meine Hausaufgaben bei eBay versteigert.
Traum: Leben in Kanada und Hundeschlittenrennen
So wie du, fasziniert mich Kanada ebenso. Mein Wunsch ist es, irgendwann, dort leben zu
dürfen. Aber bis dahin träume ich von Kanada, denn das Träumen kann mir keiner nehmen.
Wie lange warst du in Quebec und Toronto?
Bitte beschreibe etwas von den Landschaften, den Umgebungen, den Tieren. Ach, einfach
alles.
Ich fiebere jetzt schon deinem nächsten Brief entgegen.
Adieu Antoine
Seit langen fühlte ich mich wieder richtig gut. Ich inhalierte regelrecht jedes
geschriebene Wort von Antoine. Doch manchmal war es etwas schwierig, seine Handschrift
zu lesen. Teilweise wirkten die Buchstaben sehr krakelig, wie von einem Arzt.
Salut Antoine, 29.9.2015
Mir geht es gut und ich genieße das schöne Wetter. Der Sommer in diesem Jahr ist
besonders heiß und manchmal ist es draußen kaum auszuhalten. An ganz heißen Tagen
bringen sogar Eiswürfel keine Abkühlung.
Deinen Wunsch, irgendwann in Kanada zu leben, kann ich sehr gut nachvollziehen.
Ich war ein Jahr als Au Pair in Quebec. Es war eine tolle Zeit, die ich nicht missen
will.
In meiner Gastfamilie habe ich ein gehörloses Mädchen betreut und im Haushalt geholfen.
Ich muss dazu sagen, dass ich sehr viel Glück mit meiner „neuen „Familie hatte.
Teilweise kam es mir so vor, als ob sie sich mehr um mich kümmerten, als umgekehrt.
Ich hatte auch keine arbeitsintensiven Wochen, wie ich es von vielen anderen Au Pairs
schon gehört hatte. Alles verlief ganz relaxt und ohne Stress ab. Ich kümmerte mich
ausschließlich nur um die Tochter. Sie heißt Olivia und ist acht Jahre alt. Ich liebte
sie abgöttisch.
Ich bin sehr dankbar, dafür, dass man mich nicht als Angestellte, sondern als ein
(neues) Familienmitglied aufgenommen hat. Einfach toll.
Olivia hat mir sehr viel von der Natur gezeigt und erzählt. An manchen Tagen konnten wir
sogar aus der Nähe Bären und Elche beobachten. Das war manchmal nicht ganz ungefährlich,
aber wir hatten ein gutes Versteck, aus denen wir die Tiere beobachten konnten. Einige
Bären fischten flink mit ihren riesigen Tatzen die Lachse aus dem See und es gab eine
Menge davon.
Einmal fuhr ich alleine mit dem Fahrrad an einer Straße entlang. Ich drehte mich
nichtsahnend zur Seite um und sah, dass ein kleiner junger Braunbär die ganze Zeit,
freudig neben mir herlief. Der Bär war ganz schön schnell unterwegs und war so süß. Aber
ich hatte ein wenig Bedenken, falls die Bärenmutter auftauchte. Mit denen ist nicht zu
Spaßen.
Denn Herbst fand ich besonders schön.
Sowas schönes kann man nur in Kanada erleben.
Ich freue mich schon sehr, nächstens Jahr meine Gastfamilie wieder zu besuchen.
Olivia und ich verstanden uns blind, und ich glaube auch, dass sie auch dankbar war,
jemanden Gleichgesinntes, an ihrer Seite zu haben.
Ich beneide dich mit dem Symphony Orchestra. Musik ist was Wunderbares. Als Kind und
Jugendliche habe ich immer sehr gerne Musik gehört.
Du hast geschrieben, dass du gerne Träumst. Fangen wir doch mit Kanada an? Du gibst den
Anfang an und ich werde die Geschichte fortsetzten. Was meinst du?
Die Zeit gehört uns.
Adieu Eva
PS. Ich möchte nicht frech sein, aber deine Handschrift ist manchmal etwas unleserlich.
Könntest du etwas schöner schreiben?
Ich blühte richtig auf und dies entging auch meinem Vater nicht.
„Du strahlst ja heute mit der Sonne um die Wette, Eva. Was ist los?“
„Ich will mein Biologiestudium wieder aufnehmen, was meinst du?“, fragte ich meinen
Vater beim Abendessen.
„Das finde ich gut“, rief mein Vater und nickte.
„Und ich will endlich meinen Führerschein machen.“
„Was?“, rief er entsetzt. „Das geht doch überhaupt nicht. Wie stellst du dir das vor?“
„Na, ich steige in ein Auto ein und bediene Kupplung, Gangschaltung und Bremse. Wie
jeder normale Mensch auch.“
„Eva, jetzt im Ernst. Du hast überhaupt keine Wahrnehmung mehr für den Straßenverkehr!“
„Das ist Blödsinn“, schrie ich aufgelöst, „immer musst du mich in Watte packen. Ich habe
es satt!“
Ich lief weinend auf mein Zimmer.
Seit langen wieder, fühlte ich mich nicht mehr leer, ich war glücklich, wollte das
Leben, mein Leben wieder genießen. Doch meine Träume drohten wieder wie Seifenblasen zu
zerplatzen.
Bonjour Madame Eva 8.10.2015
Ich danke dir für deinen letzten Brief.
Soso, meine Handschrift gefällt dir also nicht. Das war außerordentlich frech von dir.
Nein, im Ernst, ich musste lachen, als du geschrieben hast, dass du meine Schrift
furchtbar findest. Und ich muss dir auch recht geben. Leider habe ich während meines
Studiums meine schöne Handschrift verloren. Das Arbeitspensum war enorm hoch, da blieb
die Schönschrift irgendwann aus.
Aber ich werde mich ab sofort bemühen, sauberer und ordentlicher zu schreiben.
Indianerehrenwort.
Deine Idee mit der Traumreise ist fabelhaft und ich fange auch gleich damit an:
Die Geschichte beginnt mit dem jungen Adahy. Er ist zwölf Jahre alt und lebt in einem
Indianerreservat, in Ontario. Der Indianerstamm heißt Black Mountain.
E
ines Morgens, machte Adahy sich mit seinem Fangnetz zum nahen gelegenen Fluss auf. Er
wollte an diesem Tag so viele Lachse wie möglich fangen, denn seit einiger Zeit fischten
dort auch die Bären kräftig mit. Als er am Fluss ankam, begrüßte sein Freund, ein Biber
ihn schon von Weitem. Adahy nannte ihn Wilder Wuschel. Der Biber war sehr zahm und hatte
von Anfang an keine Scheu vor mir.
Doch Wilder Wuschel war an diesem Tag besonders aufgeregt. Irgendwas wollte er mitteilen
und so folgte Adahy ihm zu seiner Biberburg. Wilder Wuschel und seine Bibergattin hatten
in der Nacht zuvor, endlich ihren Nachwuchs bekommen. Die kleinen Biber Babys schliefen
tief und fest und Wilder Wuschel gab lustige Geräusche von sich. Nach einer Weile
verabschiedete Adahy sich und ging wieder Flussufer aufwärts und setzte sich an seine
gewohnte Stelle. Er dachte darüber nach, wie schön es wäre, jemanden als Freund zu
haben. Zum Spielen, Fische fangen oder Jagen. Doch er hatte niemanden. Etwas betrübt
warf er sein Fangnetz in den Fluss und wartete gelangweilt. Plötzlich hörte er jemanden
singen. Adahy drehte sich um, sah aber niemanden. Die feine Melodie berührte ihn und so
folgte er dem Gesang...
Ich wollte dir noch eine CD vom San Francisco Symphony Orchestra beilegen, aber dafür
habe ich leider keine Genehmigung bekommen.
Ich hoffe, dir geht es gut und ich freue mich auf deine Fortsetzung.
Adieu Antoine
Salut Antoine, 25.10.2015
... der Gesang verzauberte nicht nur ihn, sondern auch die Wildtiere, die im Wald
lebten.
Das Mädchen versteckte sich hinter einem dicken alten Baum. Leise sang sie weiter, bis
der Adahy aufstand und seinen Kopf in ihre Richtung drehte. Ihre langen braunen Haare
hatte sie gut unter einer Kapuze versteckt. Als er immer näher auf sie zukam, drehte sie
sich rasch um und lief in den Wald hinein. Er folgte ihr selbstverständlich, aber sie
war schneller. Pfeilschnell. Sie rannte, bis sie ihr Reservat erreichte. Vor dem Eingang
blieb der Junge jedoch stehen und sah dem Mädchen nach. Obwohl er völlig außer Atem war,
rief er: „Mann, bist du aber schnell.“ Sie lachte und strich langsam ihre Kapuze vom
Kopf.
„Sehen wir uns wieder?“, rief er. Das Mädchen nickte und verschwand in einem Zelt....
Ich bin auf deine Fortsetzung gespannt.
Eigentlich geht es mir gut, aber ich hatte Streit mit meinem Vater. Ich will mein
Studium wieder aufnehmen, das Autofahren lernen, eigentlich einfach nur mein Leben. Aber
seit einem Unfall vor ein paar Jahren werde ich von meinem Vater regelrecht überbehütet.
Am besten soll ich nur zuhause bleiben.
Auf unterschiedliche Art haben wir beide das gleiche Schicksal, nämlich gefangen zu
sein.
Was genau hast du studiert? Und darf ich dich fragen, wie lange du schon im Gefängnis
bist?
Adieu Eva
Mein Vater beobachtete mich seit Tagen mit Argusaugen. Wir redeten kaum miteinander,
auch beim gemeinsamen Abendessen herrschte großes Schweigen zwischen uns.
„Ein Brief liegt auf der Kommode. Soll ich ihn morgen früh bei der Post aufgeben?“,
räusperte er sich nach einer Weile. Ich schüttelte verneinend mit dem Kopf.
„Den Weg zum Briefkasten finde ich noch alleine!“
Ina, unsere Haushaltshilfe, räumte mit einem besorgten Blick unsere Teller vom Tisch ab.
„Eva, was ist bloß los mit dir?“, fragte mein Vater und rieb sich die verschwitzen
Handflächen auf seiner Hose ab.
„Mit jedem Tag, der vergeht, fällt es mir schwerer, den Alltag zu bewältigen. Was für
Aufgaben habe ich denn?“, erwiderte ich leise.
„Eva, warum redest du jetzt so? Niemand zweifelt an dir!“
„Doch, gerade du zweifelst an mir!“
„Das tue ich nicht. Aber du kannst deinen gewohnten Tagesablauf nicht mehr wie früher
bewältigen. Du bist auf Hilfe angewiesen.“
Empört starrte ich meinen Vater an. Ich konnte es nicht glauben, was er da gesagt hatte.
„Meine Gehörlosigkeit ist für dich also ein Urteil, für den Rest meines Lebens? Hast du
dich mal gefragt, ob ich glücklich bin? Ein wenig kann ich noch hören und ich will
endlich wieder eine Perspektive in meinem Leben haben. Warum willst du das nicht
verstehen?“
„Es tut mir leid. So habe ich das nicht gemeint. Aber du musst mich auch etwas
verstehen.“
„Ich muss dich überhaupt nicht verstehen“, sagte ich zornig und stand vom Tisch auf.
Noch am selben Abend warf ich meinen Brief an Antoine in den Briefkasten, und hoffte auf
eine schnelle Antwort von ihm.
Bonjour Madame Eva 4.11.2015
Dein letzter Brief hat mich sehr beunruhigt.
Was ist euch Schlimmes widerfahren, dass dein Vater so um Sorge um dich ist?
Du hast einen Unfall erwähnt- was war passiert?
Eigentlich wollte ich nicht darüber reden, aber ich sitze seit fünf Jahren im Gefängnis,
und habe hier noch ein paar Jahre vor mir.
Bevor sich mein Leben zum Schlechten gedreht hatte, steckte ich mitten in einem
Medizinstudium.
Danach wollte ich mich eigentlich zum Hals-Nasen-Ohren Arzt weiterbilden lassen. Aber
daraus wird nun leider nichts mehr. Mein Zug ist längst abgefahren, und daran habe ich
selber schuld. Das Ganze war nicht absichtlich, aber dennoch unvermeidbar.
Ich fühle mich seitdem als schlechter Mensch, aber mit dir zu schreiben, gibt mir ein
wenig Hoffnung und Halt. Dafür danke ich dir vom ganzen Herzen.
Meine Fortsetzung:
... diese Stimme hatte Adahy verzaubert. Der Stamm des fremden Mädchens hieß
„Donnerschlag“ und war gefährlich, doch er wollte sie unbedingt wiedersehen.
Am nächsten Tag wartete er an der gleichen Uferstelle, wie am Tag zuvor, bis er ihre
bezaubernde Stimme hörte. Er wartete den halben Tag. Adahy sah Wilder Wuschel dabei zu,
wie er mit seiner Familie im Wasser hin und her schwamm, wie zwei Hirsche den Fluss
überquerten, und er fing sogar ein paar Lachse. Doch das Mädchen kam einfach nicht.
Gerade, als er wieder gehen wollte, hallte lautstarkes Bärengebrüll und eine
Mädchenstimme aus dem Wald hinaus.
Adahy erschrak und lief instinktiv in den Wald hinein. Ziellos irrte er zuerst umher und
versuchte festzustellen, aus welcher Richtung die Hilferufe kamen, doch dann kam er dem
Gebrüll immer näher. Entsetzt sah er, wie das Mädchen in einer Baumkrone saß und weinte.
Unten schlichen gleich zwei Schwarzbären um den Baum herum und versuchten, mit ihren
riesigen Tatzen am Stamm hochzuklettern. Adahy musste sich was einfallen lassen, um das
Mädchen vor den gefährlichen Bären zu retten. Unbemerkt lief er zum Ufer zurück und
holte das Fangnetz mit den Lachsen. Er legte alle paar Meter einen Lachs auf den Boden,
bis er fast wieder den Baum erreichte, indem das Mädchen voller Angst saß. Gut versteckt
hockte Adahy nun hinter einem großen Busch und wartete, bis die Bären etwas Abstand vom
Baum genommen hatten. Soweit er konnte, warf er einen Lachs in die Richtung der Bären
und wartete gespannt. Einer hatte sofort den Fisch entdeckt, schnappte sich diesen und
lief damit davon. Nun aber war der andere Bär noch da, und der wollte partout nicht
verschwinden. Adahy warf einen weiteren Lachs und traf damit dem armen Bären mitten ins
Gesicht. Ganz verdutzt guckte dieser sich um, nahm den Lachs auf und lief genau in die
Lachs-Fährte, die Adahy ausgelegt hatte. Als beide Bären endlich verschwunden waren,
rannte er zum Baum und gab Entwarnung.
Er fragte das Mädchen nach ihrem Namen und sie antwortete von oben, aus der wackeligen
Baumkrone: „Ich heiße....
Adieu Antoine
PS. Das Leben ist wie eine Achterbahnfahrt.
Salut Antoine, 14.11.2015
...Lakota. In letzter Sekunde hatte der Junge Lakota gerettet. Er schaute sie mit seinen
großen braunen Augen an und breitete seine Arme aus. Sie solle springen, rief er immer
wieder. War er etwa lebensmüde? Lakota kletterte langsam vom Baum hinab und sprang nur
den letzten Meter ab. Sie schaute ihn vorsichtig an, denn er hatte eine lange Narbe an
seiner linken Wange. Sie deutete ohne Worte darauf und er antwortete: „Kampfnarbe von
einem Elch“. Lakota staunte und grinste zugleich. Sie liefen Richtung Fluss, denn Adahy
wollte ihr etwas zeigen. Im dichten Wald rannten die beide um die Wette, aber Lakota war
auch diesmal wieder schneller. Am Flussufer ließ sich Adahy völlig aus der Puste auf den
Boden fallen und wischte sich über sein verschwitztes Gesicht. Er starrte sie ungläubig
an. Er sagte: „Der Name Schneller Fuß wäre besser für dich gewesen“.
Sie bauten an diesem Tag einen kleinen Staudamm aus Steinen, plantschen und kühlten sich
im Wasser ab oder genossen einfach die unberührte, stille Natur.
Doch plötzlich, wie aus dem Nichts, kam etwas auf sie zu geschwommen. Es war groß,
haarig und schnaubte fürchterlich. Lakota hatte Angst und versteckte sich hinter Adahy.
Sie wollte weglaufen, doch Adahy hielt sie sanft fest und lachte...
Dein letzter Brief hat mich sehr überrascht.
Wenn du wieder frei bist, kannst du noch immer dein Studium absolvieren und HNO Arzt
werden. Gefängnis bedeutet nicht das Ende! Bis heute habe ich keinen HNO Arzt gefunden,
der ansatzweise fähig ist, mir zu helfen. Gute Ärzte zu finden ist nicht immer leicht.
Vor ein paar Jahren, an einem frühen Morgen hatte meine Mutter mich vom Flughafen
(Provence Airport) abgeholt. Ich kam an diesem Tag, nach einem Jahr als Au Pair aus
Kanada zurück.
Ich sprühte vor Freude und erzählte wie ein Wasserfall von meinem Aufenthalt.
Doch dann hatten wir einen Autounfall. Vom Aufprall gegen einen Baum wurde mein rechtes
Trommelfell zerschmettert. Mein anderes Ohr bekam immer wieder nach dem Unfall eine
Entzündung, sodass mein linkes Gehör von Tag zu Tag langsam nachlässt. Irgendwann werde
ich ganz taub sein.
Doch ich will wieder leben, ein Auto fahren, reisen, glücklich sein. Mein Vater sagt,
ich werde das nicht alleine schaffen. Er hatte zu viel Angst, dass er auch noch mich
verlieren könnte. Aber was ist das für ein Leben, was ich gerade führe? Ich denke, meine
Mutter hätte das so nicht gewollt.
Gestern hatte ich seit langen mal wieder Tränen gelacht, als ich TV schaute: ein Mann
stand auf einem Berg mit einem Bügelbrett und Bügeleisen. Extrembügeln in einem Gebirge.
Er rief immer zum Himmel hinauf und bettelte um Strom. Total witzig, es war eine
Stromwerbung. Manchmal kommen die Menschen auf verrückte Ideen.
Noch ein paar Wochen, dann ist Weihnachten.
Ich habe einen Wunsch an dich: Erzähle mir bitte, warum du im Gefängnis sitzt. Bitte.
Adieu Eva
Bonjour Madame Eva, 4.12.2015
Danke für deine Aufmunterung mit dem Studium, aber im Ernst, wer will sich schon von
einem ehemaligen Knacki behandeln lassen? Du etwa?
Deine Gehörlosigkeit tut mir sehr leid.
Darüber zu reden, warum ich im Gefängnis sitze, ist für mich nicht so einfach, doch ich
werde es dir erzählen:
Vor fünf Jahren hatte ich mit einem Freund ein Konzert in Marseille besucht.
Wir fuhren mit seinem Auto von Nizza nach Marseille.
Am frühen Morgen, nach dem Konzert wollte mein Freund völlig betrunken von Marseille
wieder nach Nizza zurückfahren. Doch ich widersprach ihm und wollte mit dem Taxi zum
Flughafen und anschließend mit dem Flugzeug zurück nach Nizza fliegen.
Doch mein damaliger Freund wollte sein Auto nicht in Marseille lassen und stieg völlig
betrunken ein.
Ich hingegen hatte nichts getrunken und wollte eigentlich auch nur nach Hause. Es waren
einige Stunden Fahrt und ich war müde, dennoch setzte ich mich unüberlegt an das Steuer
und fuhr los. Ich war gerade dabei, meine Fahrerlaubnis zu machen und hätte am nächsten
Tag meine Fahrprüfung gehabt.
Ich dachte, es wird schon nichts passieren.
Mein Freund aber war so betrunken, dass er plötzlich im Auto zu randalieren anfing. Er
griff mir immer wieder ins Lenkrad. Ich hatte ihn noch nie so erlebt! Plötzlich wollte
er wieder fahren, und fuhr mich an, ich sollte anhalten, es wäre ja schließlich sein
Auto.
Dann kam das Tragische: In einer Kurve, griff er wieder in das Lenkrad und ich verlor
die Kontrolle.
Wir rasten in ein entgegenkommendes Auto.
Ich bekam nur noch mit, dass das entgegenkommende Auto gegen einen Baum prallte. Später
erfuhr ich, dass die Fahrerin an ihren Verletzungen im Krankenhaus gestorben war. Ihre
Tochter, die mit im Auto saß, überlebte schwer verletzt.
Ich habe acht Jahre Gefängnis bekommen. Mein damaliger Freund hat sich nie wieder bei
mir gemeldet. Er lud alle Schuld auf mich.
Diese Schuldgefühle plagen mich immens. Ich kann nicht mehr richtig schlafen. Dieser
Unfall verfolgt mich noch heute in meinen Träumen.
Glaube mir, ich würde alles dafür tun, dies ungeschehen zu machen. Ich habe einem
Menschen seine Mutter genommen. Es tut mir so unendlich leid.
Meine Eltern wollen nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich hätte unvernünftig gehandelt,
werfen sie mir vor. Ich stelle mir immer wieder dieselbe Frage, warum ich nicht ein Taxi
genommen habe, warum ich unbedingt nach Marseille fahren musste, obwohl am nächsten Tag
meine Fahrprüfung gewesen wäre.
Seitdem sind Jahre vergangen.
Ihr Vater hat damals zu mir gesagt, wenn ich es wage, nur einen Schritt auf seine
Tochter zu machen, wird er dafür sorgen, dass ich für immer hinter Gittern bleibe.
Eva, ich würde mein Leben dafür geben, dieses ungeschehen zu machen.
Adieu Antoine
Ich wurde stutzig, als ich den Brief zu Ende gelesen hatte. Konnte das sein? Ich
schüttelte entschieden mit dem Kopf und schrieb allen dem puren Zufall zu.
Ein bis zweimal im Monat korrespondierten wir miteinander. Antoine durfte zwar
unbegrenzt Briefe nach draußen schreiben, aber die anschließende Genehmigung dafür,
dauerte immer eine Ewigkeit.
Doch plötzlich hörte ich nichts mehr von Antoine. Jeden Tag rannte ich nervös zum
Briefkasten, wurde aber stets enttäuscht.
Dann kam der Tag, der alles veränderte.
Eines Tages machte ich einen Fehler, und ließ einen Brief von Antoine offen auf meinem
Schreibtisch liegen. Es regnete an dem Tag und mein Fenster im Zimmer stand noch offen.
Mein Vater ging hinein, machte es zu und kam mit dem Brief wieder nach unten in das
Wohnzimmer, wo ich Fernsehen schaute. Regungslos stand er im Türrahmen und hielt den
Brief hoch. Sein Gesicht war kreidebleich. Seine Stimme zitterte, als er mich fragte:
„Wie lange schreibst du schon mit diesem Kerl und wie heißt er weiter?“
„Antoine Duprais“, antwortete ich.
Meinem Vater entglitten sämtliche Gesichtszüge und er stammelte etwas Undefinierbares.
„Du wirst dich von diesem Mann fernhalten!“, brüllte er dann und zerriss den Brief in
tausend Stücke. Wie versteinert saß ich im Sessel und wagte es für einen Moment nicht,
zu protestieren.
Doch dann fasste ich Mut, stand mit geballten Fäusten auf und schrie alles heraus, was
mir auf dem Herzen lag: „Diese dicke Schutzmauer, die du seit dem Tod von Mama um mich
gebaut hast, habe ich so satt! Ich bin eine erwachsene Frau, auch wenn ich fast taub
bin, kann ich noch schreiben, lesen, fühlen und verstehen!“
Mein Vater starrte mich entsetzt an. Tränen kullerten ihm über das Gesicht. Er sagte
kein Wort.
„Warum willst du mir das jetzt kaputt machen und warum hast du so einen Hass auf
Antoine, wobei du ihn überhaupt nicht kennst?“, schluchzte ich.
„Er hat deine Mutter umgebracht!“, sagte mein Vater ganz ruhig und sah mich dabei an.
„Was? Das kann ich nicht glauben. Du lügst!“
„Es ist die Wahrheit. Dieser Antoine hatte damals das Auto gefahren. Er ist der Mörder
deiner Mutter, meiner Frau. Eva, ich will dich doch nur schützen. Du bist alles, was ich
noch habe“, flehte er mich schließlich an.
Ich rannte an meinem Vater vorbei, hinauf auf mein Zimmer und weinte bitterlich bis tief
in die Nacht. Ich fühlte mich wie in eine dicke Schicht verpackt, in der ich nicht
ausbrechen konnte. Ich überlegte, ob Antoine von Anfang an wusste, wer ich war. War er
so eiskalt?
Antoine erschien so herzlich, einfühlsam, klug, und ich freute mich jedes Mal, von ihm
zu hören.
Ich mochte ihn trotzdem, denn es konnte nur eine vernünftige Erklärung dafür geben:
meine Mutter hatte bei ihrer Heirat mit meinem Vater ihren Mädchennamen behalten. Ich
hingegen bekam den Nachnamen meines Vaters. Deshalb konnte Antoine eigentlich nicht
wissen, wer ich eigentlich war. Oder etwa doch? Es war ein Durcheinander. Ich konnte
nicht anders und setzte am frühen Morgen ein paar Zeilen auf:
Salut Antoine, 10.12.2015
Mein Vater hat mir den Namen des Unfallverursachers bis heute verschwiegen. Aber nun
weiß ich es: Antoine Duprais. Ich kann es nicht glauben! Aber nun wird mir einiges klar.
Wusstest du von Anfang an, wer ich bin?
Bitte sei ehrlich!
Adieu Eva
Nur ein paar Tage später bekam ich Post aus dem Gefängnis von Marseille. Ich nahm ein
dünnes Blatt Papier und eine Hülle aus dem Umschlag. Der Brief war übersät mit
Tränenflecken.
Schockiert las ich die wenig geschriebenen Zeilen:
Bonjour Madame Eva, 15.12.2015
Es bricht mir das Herz, dass ausgerechnet du es bist... es tut mir so unendlich leid.
Ich wusste wirklich nicht, wer du bist. Das Gericht, dein Vater, sie haben deinen Namen
verschwiegen. Bitte glaube mir, ich bin kein Monster. Ich kann nicht mehr
weiterschreiben.
Lebe wohl.
Antoine
Mein Vater hatte tatsächlich recht gehabt. Meine Augen fingen an zu brennen. Kein Gruß,
nur diese knappen Zeilen und eine kleine Hülle, in der eine Original CD vom San
Francisco Symphony Orchestra beilag.
Mit zittrigen Händen legte ich die CD ein und schloss die Augen. Ich versuchte, genau
hinzuhören, aber es war zwecklos. Ich konnte fast nichts mehr hören.
Nur ein leises rauschen, ein ganz leiser Hall, als wenn man sich unter Wasser bewegte.
Ich weinte, bis ich erschöpft einschlief.
In den nächsten Wochen hörte ich nichts mehr von Antoine. Ich schrieb ihm jede Woche
einen kurzen Brief, aber er antwortete nicht mehr. Doch ich vermisste ihn immer mehr.
Im Frühling wagte ich einen letzten Versuch und schrieb Antoine einen langen Brief.
Salut Antoine 1. Mai 2016
Weißt du eigentlich, dass du mir zum zweiten Mal mein Herz brichst?
Mit jedem Brief habe ich gemerkt, dass du ein besonders gutes Herz besitzt.
Es ist eine lange Zeit vergangen und ich habe viel darüber nachgedacht und versucht,
mich in deine Situation hineinzuversetzen.
Was geschehen war, können wir nicht mehr rückgängig machen. Aber wir können lernen,
damit umzugehen. Der Unfall war nicht allein deine Schuld, aber was wäre gewesen, wenn
dein Freund alleine, in seinem Zustand losgefahren wäre? Was wäre dann passiert? Ich mag
es mir nicht vorstellen.
Ich habe meine Mutter sehr geliebt. Egal was ich gemacht hatte, sie hat mich trotzdem
geliebt, sie war immer ehrlich zu mir. Sie ist mein größtes Vorbild. Mein Vater betont
sehr oft (fast täglich), dass ich wie meine Mutter sei. Das macht mich sehr stolz und
glücklich. Auch wenn sie gegangen ist, ist ein Teil von ihr immer bei mir.
Seit du in meinem Leben getreten bist, hat sich für mich alles verändert. Ich spreche
nicht von Liebe, aber vielleicht von etwas Ähnlichem. Meine Lebensfreude ist wieder da.
Ich fühle keinen Zorn oder Wut gegen dich- das ist ja das Merkwürdige, Antoine.
Es heißt zwar, die Zeit heilt alle Wunden, doch es muss für dich furchtbar sein, mit
diesem Gewissen zu leben. Ich sollte dir nicht leidtun, sondern umgekehrt.
Es war ein tragischer Unfall, Antoine. Du hast das weder mit Absicht noch im
alkoholisierten Zustand verursacht.
Ich habe lange überlegt, ob man sowas verzeihen kann. Ich denke - ja, das kann man.
Ich hätte vermutlich genauso wie du gehandelt und hätte das Auto auch ohne Fahrerlaubnis
gefahren.
Mein Schmerz ist vergangen und ich will wieder ein erfülltes Leben führen. Und du
solltest das auch. Auch wenn sich das jetzt hart anhört, aber durch Selbstvorwürfe kommt
meine Mutter auch nicht zurück.
Mir ist auch egal, was mein Vater darüber denkt. Er wird niemals über den Verlust
hinwegkommen, aber er muss endlich akzeptieren, wie es ist.
Ich möchte weiter mit dir befreundet sein. Bitte denke darüber nach.
Meine Fortsetzung, falls du unsere Geschichte noch nicht vergessen hast:
...Adahy hielt Lakota sanft fest und lachte. Dieses furchteinflößende Wesen im Wasser
war Wilder Wuschel. Er kam vergnügt mit seinen kleinen Kindern, die auf seinem Rücken
saßen, angeschwommen. Lakota musste lachen, als sie die süßen, pelzigen Tiere sah.
Von da an verbrachten die beiden jeden Tag von früh bis spät miteinander. Adahy und
Lakota waren wie Seelenverwandte und teilten alles miteinander.
Doch eines Tages sah Adahy sehr traurig aus. Er erzählte, dass sein Stamm für einige
Zeit das Land verlassen wird. Wann genau er wiederkommen wird, wisse er nicht.
Etwas verlegen fragte Lakota ihn, ob sie auf ihn warten darf. Adahy antwortete, dass es
sein wäre Traum wäre. Er möchte mit ihr durch die unberührte Wildnis von Kanada laufen,
die kleinen und großen Berge erklimmen, die Wale beobachten, um die Wette schwimmen und
Hundeschlitten führen.
Lakota nickte und sagte: „Indianerehrenwort.“
Dann verschwand Adahy im dichten Wald, drehte sich nochmal um und winkte.
Lakota war traurig, aber sie wusste, dass sie sich eines Tages wiedersehen werden, und
darauf freute sie sich jetzt schon.
Adieu Eva
Es vergingen Wochen und Antoine antwortete nicht.
Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, als drei Monate später, im August, mich
zur gleichen Zeit, wie im letzten Jahr zuvor, ein Brief aus dem Gefängnis erreichte:
Bonjour Madame Eva, 8.8.2016
Es tut mir unendlich leid, dass ich dir nicht mehr geantwortet habe. Doch ich konnte
nicht anders.
Ich musste mit mir kämpfen, aber meine Therapeutin sagte, ich soll das mit dir, nicht
einfach so wegwerfen. Sie hat deinen letzten Brief gelesen und war sichtlich ergriffen.
Sie sagte, dass du eine sehr starke Frau sein musst. Eva, das bist du wahrhaftig!
Ich wünsche mir, dass wir trotz allem Freunde bleiben.
Adieu Antoine
Am gleichen Tag schrieb ich noch zurück:
Salut Antoine, 8.8.2016
Unter zwei Bedingungen: Wenn du dein Studium wieder aufnimmst und das wir irgendwann
zusammen durch Kanada reisen!
Glaubst du, du schaffst das?
In zwei Wochen darf ich meinen Führerschein beginnen. Ist das nicht toll?
Ein ganz klein wenig kann ich ja noch hören, lesen und schreiben ja sowieso. Also wird
das kein Problem sein, versicherte mir mein behandelnder Arzt. Mein Vater hat sich
mittlerweile auch gefangen und ist sogar sehr stolz auf mich. Meine Bescheinigung über
die Verkehrssicherheit habe ich über ein Gutachten beim Hals-Nasen-Ohrenarztes bekommen,
denn mein Hör-Sinns darf keine Gleichgewichtsstörungen mit sich ziehen.
Mein Biologie Studium werde ich nach den Ferien auch wieder aufnehmen. Ich freue mich
so.
Antoine, es ist schön , dass es dich gibt und
jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient.
Adieu Eva
Bonjour Madame Eva, 19.8.2016
Schritt für Schritt habe ich wieder den Mut, um einen Neuanfang zu beginnen.
Deine Briefe, deine Seelengüte geben mir unendlich viel Kraft.
Und es gibt Neuigkeiten. Meine zweite Chance habe ich ergriffen und unerwartet den
offenen Vollzug bekommen. Das heißt: mein Antrag auf Wiederaufnahme für mein Studium
wurde tatsächlich genehmigt. Ich kann nach dem Sommer sofort beginnen! Ich kann es
selber kaum glauben, aber es ist wirklich wahr. Zum Glück habe ich noch Erspartes,
sodass ich das Studium bezahlen kann.
Eva, fünf Jahre habe ich noch, und vielleicht werde ich wegen guter Führung vorzeitig
entlassen. Hoffnung habe ich. Jedoch kann ich dir nicht versprechen, ob ich jemals
wieder sorgenfrei ein Auto fahren kann.
... doch Adahy kam nochmal aus dem Wald zurück gerannt, und überreichte Lakota ein von
ihm selbstgebautes Windspiel aus Zedernholz. Sie sollte ihn nicht vergessen. Dann
verschwand er.
Adieu Antoine
Ich war wieder glücklich. Das ist meine Welt.
Kurzgeschichte
Früher war Saskia eine selbstbewusste junge Frau, die mit offenen Augen durchs Leben ging.
Mit Anfang zwanzig dachte sie, in Harald ihr großes Glück gefunden zu haben.
Sie heirateten ziemlich schnell, kauften ein schickes Haus am Stadtrand und krönten ihre
Liebesgeschichte im rasanten Tempo mit zwei Kindern.
Harald arbeitete als Maschinenbauer und besuchte drei Mal in der Woche ein Fitnessstudio.
Saskia allerdings hing nach dem ersten Kind ihren Beruf als Flugbegleiterin an den Nagel.
Stattdessen war sie nur für die Kinder da - sie weiterzuentwickeln, sie zu fördern,
sich um das Haus und den Haushalt kümmern, ja all das waren ihre Aufgaben,
welche sie sich auch gerne hingebungsvoll und mit Ausdauer hingab.
Zwanzig Jahre vergingen, als eines Tages ihr jüngstes Kind, Ina, vor Saskia stand und freudig
verkündete: „Mama, ich werde in sechs Wochen ausziehen!“
Saskia sah erstaunt auf. Doch gleichzeitig verriet ihr Blick eine Traurigkeit.
„So schnell habe ich damit nicht gerechnet. Erst Ben und jetzt du“, sagte Saskia leise und war
sichtlich bemüht, nicht in Tränen auszubrechen.
„Mama, entspann dich mal. Ich bin doch nicht aus der Welt.“
„Ist schon Okay. Du sollst ja dein eigenes Leben führen,“ sagte Saskia. Sie sah ihre Tochter mit feuchten Augen an.
„Mama, du solltest ebenfalls einen neuen Lebensabschnitt beginnen,“ sagte Ina ernst, „oder glaubst du, Ben und ich haben all die Jahre nichts mitbekommen? - Mach es, wenn nicht jetzt, wann dann?“
Saskia erwiderte nichts darauf.
Sie hatte zwar die Eskapaden ihres Mannes satt, aber es fehlte ihr an Mut, alles hinter sich zu
lassen. Doch sie liebte ihren Mann und sah über seine Fehler und Untreue immer wieder hinweg,
so sehr sie auch wehtaten.
Doch dann kam der Tag, der das Fass endgültig zum Überlaufen brachte.
Saskia fegte gerade die Einfahrt, als plötzlich eine junge Frau mit einem kleinen Kind vor ihr stand.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte Saskia.
Der Gesichtsausdruck der jungen Frau verriet nichts Gutes.
„Ist Harald zufällig da?“, erwiderte die junge Frau patzig.
„Nein, aber was wollen Sie von meinem Mann?“
„Er ist seiner Tochter Alimente schuldig!“ Sie nickte zu ihrer Tochter hinab.
„Wie bitte?“, rief Saskia empört auf. „Seien Sie vorsichtig, was sie da behaupten!“
Erst jetzt sah Saskia das Kind genauer an.
Die Ähnlichkeit, die blauen Augen und feinen Gesichtszüge, sorgfältig beobachtete sie die Mimik des kleinen Mädchen - und ahnte es dann.
„Das darf doch nicht wahr sein!“ stammelte Saskia und schlug entsetzt die Hand vor dem Mund.
„Das sage ich mir oft selbst“, entgegnete nun die junge Frau freundlicher.
„Kommen Sie, wir warten gemeinsam auf Harald“, sagte Saskia entschlossen und bat die junge Frau in ihr Haus.
„Wirklich?“, stammelte die junge Frau ungläubig.
„Was soll ich sonst machen? Sie anschreien? - Erzählen Sie mir lieber ihre Version von meinem Mann und Ihnen.“
In den nächsten Wochen bereitet Saskia entschieden alles vor. Der neue Reisepass war abgeholt,
die Koffer gepackt, das Flugticket gebucht.
Zwanzig Jahre lang hatte Saskia jeden Monat heimlich etwas Haushaltsgeld abzweigen können.
Sie nannte es den Notfallgroschen, falls etwas Unvorhersehbares passieren würde. Der Fall war nun eingetroffen.
„Was wird das, wenn ich fragen darf?“, fragte Harald spitz, als er wieder Mal etwas später von der Arbeit heimkam und im Flur die zwei Reisekoffer erblickte.
„Ich habe vergessen, zu leben - du anscheinend ja nicht. Jetzt bin ich dran. Ich nenne es Aufbruch in ein neues Leben“, sagte Saskia entschlossene und zog ihren Mantel an.
„Spinnst du jetzt völlig? Bist du in den Wechseljahren?“, schrie Harald empört.
Saskia ließ sich nicht beirren und fuhr unbeeindruckt fort: „Um ehrlich zu sein, ich bin die ganzen Jahre nur wegen der Kinder bei dir geblieben. Ich habe längst gewusst, dass du mich fortlaufend betrügst und nicht ehrlich zu mir bist. Aber dass du dich dabei noch fortpflanzt, ist unverzeihbar! Wie viele Kinder auf der Welt laufen noch von dir rum?“, fragte Saskia spitz.
Harald versuchte Saskia noch den Weg zur Tür zu versperren aber es half nichts.
Es klingelte bereits an der Wohnungstür.
„Mein Taxi oder soll ich schreien?“, sagte Saskia diesmal sehr ruhig, schob sich an ihrem Mann vorbei und öffnete die Wohnungstür.
„Wenn du jetzt gehst, brauchst du nicht mehr wiederkommen!“, schrie Harald.
„Das habe ich auch nicht mehr vor“, erwiderte Saskia und zwinkerte dem Taxifahrer zu.
Der alte Taxifahrer begriff sofort die Situation und nahm ohne Worte ihren Koffer ab.
„Ich habe schon viel zu lange gewartet, Harald. Ich wünsche dir alles Gute für deine weitere
Zukunft“, sagte sie und drehte sich von ihm weg.
„Du wirst wiederkommen! Das weiß ich ganz genau!“, brüllte er ihr hinterher. Doch einen Moment später fing Harald hemmungslos an der Tür zu weinen an, als das Taxi mit Saskia darin davonfuhr.
Dennoch, Saskia wusste ganz genau, in ein oder zwei Stunden hing Harald wieder an seinem
Laptop und schrieb schmierige E-Mails mit irgendwelchen Frauen. Das war sein Leben.
Als Saskia den Flughafen schon von weitem in der Abenddämmerung sah, atmete sie tief und
erleichtert durch.
„Da wären wir“, sagte der alte Taxifahrer und musterte sie vom Rücksitzspiegel aus.
Er schaltete das Taxameter aus und drehte sich zu ihr um.
„Wie viel bekommen Sie?“, fragte Saskia und kramte nach ihrem Geldbeutel in der Tasche.
„Nichts!“ Der alte Mann winkte ab und sagte: „Nun, als sie vorhin in das Taxi eingestiegen sind, habe ich sofort ihren erleichterten, glücklichen Gesichtsausdruck wahrgenommen, wie bei meiner bezaubernden Frau, als sie damals ihren furchtbaren Ehemann für mich verlassen hat.“
„Wirklich?“, fragte Saskia erstaunt.
„Sie haben richtig gehört. Nun gehen sie schon. Ich bin mir sicher, dass Sie das richtige tun. Ich wünsche Ihnen ganz viel Glück für ihren Neuanfang.“
„Wissen Sie, nach über zwanzig Jahren habe ich es endlich geschafft, meine Brille vollkommen abzusetzen“, hauchte Saskia, bedankte sich und stieg aus.
Mit zittrigen Händen stand sie nun am Airport und zündete sich eine Zigarette an. Hastig rauchte sie die erste Zigarette, schließlich die zweite mit Genuss.
Entschlossen betrat Saskia das Gate, ohne sich nochmal umzudrehen.
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